Weiter weg
Gallagher ein mit solcher Art Wahrheit verbundenes, sonderbares Paradox: Im 18. Jahrhundert hörten die Schriftsteller (mehr oder weniger angefangen mit Defoe) nicht nur auf zu behaupten, ihre Erzählungen seien nicht erfunden; sondern sie gaben sich auch große Mühe, ihre Erzählungen nicht länger erfunden wirken zu lassen – Plausibilität wurde Pflicht. Gallaghers Erklärung für dieses Paradox weist auf einen weiteren Aspekt der Moderne hin, die Notwendigkeit nämlich, Risiken einzugehen. Sobald ein Geschäft auf Investitionen angewiesen war, musste man diverse mögliche Ergebnisse gegeneinander abwägen; sobald Ehen nicht länger arrangiert wurden, musste man auf die Vorzüge potenzieller Partner spekulieren. Und der Roman, wie er sich im 18. Jahrhundert entwickelte, stellte seinen Lesern ein Spielfeld zur Verfügung, das spekulativ und zugleich risikofrei war. Während der Roman seine Fiktionalität ausstellte, waren seine Protagonisten einerseits typisch genug, um als mögliche Versionen des eigenen Ichs erfahren zu werden, und andererseits spezifisch genug, um zugleich nicht ich zu sein. Die große literarische Erfindung des 18. Jahrhunderts war also nicht bloß eine Gattung, sondern vielmehr eine Haltung zu dieser Gattung. Die Geisteshaltung, mit der wir heute einen Roman aufschlagen – unser Wissen darum, dass es sich um ein Werk der Imagination handelt, unser willentliches Außerkraftsetzen des Zweifels –, macht tatsächlich zur Hälfte das Wesen des Romans aus.
Eine Reihe neuerer Untersuchungen hat die alte Auffassung, das Epos sei zentraler Bestandteil aller, auch der oralen Kulturen untergraben. Literatur, ob Märchen oder Fabel, scheint hauptsächlich etwas für Kinder gewesen zu sein. In vormodernen Kulturen wurden Geschichten um der Information oder der Erbauung oder um des Kitzels willen gelesen, und die anspruchsvolleren literarischen Formen, Dichtung und Drama, bedurften eines gewissen technischen Könnens. Der Roman jedoch lag für jeden, der Stift und Papier hatte, in Reichweite, und das Vergnügen, das er bereitete, war einzigartig und modern. Eine erfundene Geschichte zu durchleben, nur weil es Spaß machte, wurde zu einem Vergnügen, dem sich nun auch Erwachsene nach Belieben hingeben konnten (wenngleich auch manchmal mit Schuldgefühlen). Der historische Wandel hin zum Lesen aus Vergnügen war derart tiefgreifend, dass wir ihn heute kaum noch erkennen können. Weil der Roman subgenerisch in Filme und Fernsehshows und Videospiele gewuchert ist – von denen die meisten ihre Fiktionalität betonen, allesamt aber Figuren präsentieren, die zugleich typisch und spezifisch sind –, ist es tatsächlich wohl kaum übertrieben zu behaupten, dass es die Saturiertheit in Sachen Unterhaltung ist, die unsere Kultur von allen vorangegangenen Kulturen unterscheidet. Der Roman, als Dualität von Sache und Haltung-zur-Sache, hat unsere Haltung so gründlich verändert, dass die Sache selbst Gefahr läuft, nicht länger gebraucht zu werden.
Auf Más Afueras Schwesterinsel – ursprünglich Más Atierra, Näher am Land, nun aber Robinsón Crusoe genannt – hatte ich gesehen, welchen Schaden ein Trio von Festlandpflanzen – Macchie, Guave und Brombeere – anrichtet, das ganze Anhöhen und Stromgebiete monokulturell überrennt. Besonders bösartig sah die Brombeere aus, die selbst hohe einheimische Bäume erdrosseln kann und sich unter anderem verbreitet, indem sie Ausläufer abschießt, die wie dornige Glasfaserkabel aussehen. Zwei einheimische Pflanzenarten sind bereits ausgestorben, und ohne eine massive Renaturierungsmaßnahme werden viele weitere folgen. Unterwegs auf der Insel Robinsón, nach zarten einheimischen Pflanzen an den Brombeerrändern suchend, begann ich, den Roman als einen Organismus zu begreifen, der auf der Insel England zu einem virulenten Invasiv mutiert war und sich von Land zu Land ausgebreitet hatte, bis der Planet erobert war.
In Joseph Andrews spricht Henry Fielding von seinen Figuren als «Arten» – als etwas, das mehr ist als individuell und weniger ist als universell. Aber so wie der Roman die kulturelle Umwelt verändert hat, sind menschliche Arten einer universellen Masse aus Individuen gewichen, deren hervorstechendes Merkmal es ist, identisch unterhalten zu werden. Das war das monokulturelle Monster, das David in seinem monumentalen Roman Unendlicher Spaß hatte kommen sehen und gegen das Widerstand zu leisten er ausgezogen war. Und die Form seines
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