Weiter weg
konnte, steiler zu werden, also machte ich kehrt und kämpfte mich zurück auf den Kamm, wobei ich mich mit dem GPS orientierte. Nach einer Stunde Suche war ich völlig durchnässt und kaum mehr als dreihundert Meter von meinem Ausgangspunkt entfernt.
Ein Blick auf die Karte, die dabei sehr nass wurde, erinnerte mich an das unbekannte Wort, das Danilo benutzt hatte. Cordones : Das musste Gebirgskamm heißen! Ich sollte den Kämmen folgen! Nur noch innehaltend, um elektronische Brotkrumen zu streuen, stürmte ich wieder bergauf, bis ich eine solarbetriebene Funkantenne erreichte, vermutlich auf einem der Gipfel. Der Wind, jetzt stärker, blies Wolken über die Rückseite der Insel, die, wie ich wusste, aus Klippen besteht, die tausend Meter tief zur Robbenkolonie hin abfallen. Sehen konnte ich sie nicht, aber der bloße Gedanke an ihre Nähe ließ mich schwindeln; ich habe große Angst vor Klippen.
Zum Glück war der cordón südlich der Antenne einigermaßen eben, und es fiel mir nicht allzu schwer, mir einen Weg zu suchen, selbst bei starkem Wind und einer Sicht nahe null. Eine halbe Stunde lang kam ich gut voran, begeistert, dass ich aus knapper Information den richtigen Weg nach Los Inocentes erschlossen hatte. Schließlich aber teilte sich der Kamm und stellte mich vor die Wahl, entweder einer höher oder einer tiefer gelegenen Route zu folgen. Die Karte deutete ziemlich klar darauf hin, dass ich auf tausend Metern sein sollte, nicht auf zwölfhundert. Doch als ich im Versuch, meine Höhe zu verringern, den tiefer gelegenen Kammwegen folgte, landete ich an übelkeiterregend steilen Abhängen. Ich kehrte auf den höher gelegenen Kammweg zurück, der außerdem den Vorzug hatte, geradewegs südlich in Richtung Los Inocentes zu führen, und freute mich, als er schließlich abfiel.
Mittlerweile war das Wetter richtig schlecht, der Nebel hatte sich in Regen verwandelt und blies horizontal, mit Windböen von über sechzig Stundenkilometern. Während ich mir meinen Weg den Kamm hinab suchte, wurde der beängstigend enger und enger, bis eine schmale Felsnadel ihn gänzlich versperrte. Ich konnte mehr oder weniger gut erkennen, dass der Kammweg dahinter weiter abwärts führte, wenn auch sehr steil. Aber wie um den Felsen herum kommen? Wenn ich mich um seine Leeseite hangelte, riskierte ich, von einer Bö erfasst und hinuntergeweht zu werden. Und auf der Windseite ging es, soweit ich wusste, blanke tausend Meter in die Tiefe; aber wenigstens würde mich der Wind dort gegen den Felsen drücken statt mich von ihm wegzureißen.
In meinen regendurchtränkten Stiefeln hangelte ich mich an der Windseite entlang, jeden Tritt und jeden Griff zweimal prüfend, bevor ich ihm vertraute. Während ich vorwärtskroch und ein wenig weiter sehen konnte, kam mir der Kammweg jenseits der Felsnadel mehr und mehr wie eine neue Sackgasse vor, nichts als dunkler Raum dahinter und zu beiden Seiten. Auch wenn ich fest entschlossen war, den Más-Afuera-Schlüpfer zu finden, kam doch der Moment, in dem ich mich vor dem nächsten Schritt fürchtete, und plötzlich konnte ich mich selber sehen: mit ausgestreckten Armen und Beinen gegen eine glatte Felswand gepresst, in blendendem Regen und grimmigem Wind, ohne die Garantie, dass ich überhaupt in die richtige Richtung ging. Ein Satz, so klar, dass er beinahe wie gesprochen schien, schoss mir in den Kopf: Was du da machst, ist extrem gefährlich. Und ich dachte an meinen toten Freund.
David schrieb so gut über das Wetter wie jeder andere, der je Worte zu Papier gebracht hat, und seine Hunde hat er unverfälschter geliebt als irgendetwas oder irgendjemanden sonst, aber die Natur selbst hat ihn nicht interessiert, und Vögel waren ihm völlig egal. Einmal, als wir mit dem Auto in der Nähe von Stinson Beach unterwegs waren, in Kalifornien, hielt ich an, um ihm einen Fernglasblick auf einen Rostbrachvogel zu gönnen, eine Art, deren Herrlichkeit sich in meinen Augen ganz von allein erschließt. David schaute zwei Sekunden lang durch das Glas, bevor er sich offenkundig gelangweilt abwandte. «Yeah», sagte er mit seinem charakteristischen Tonfall leerer Höflichkeit, «er ist schön.» In dem Sommer, bevor er starb, saß ich mit ihm auf seiner Veranda, und während er Zigaretten rauchte, konnte ich meinen Blick nicht von den Kolibris abwenden, die sein Haus umschwirrten, und war traurig, dass er es konnte. Wenn er seinen schwer medikamentierten Mittagsschlaf hielt, lernte ich für eine bevorstehende
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