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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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allein in der Wildnis sein, und bis es so weit kam, war das Gummi brüchig geworden. Ich füllte den Segeltuchschlauch mit ziemlich trübem Wasser, betrat, gegen meine Vorsätze, das refugio und goss das Wasser mit ein paar Jodtabletten in einen großen Kochtopf. Irgendwie hatte mich diese einfache Aufgabe eine Stunde gekostet.
    Da ich nun schon mal im refugio war, wechselte ich meine von der Kletterei durch Tau und Nebel durchweichten Kleider und versuchte, das Innere meiner Stiefel mit dem überschüssigen Toilettenpapier, das ich gekauft hatte, zu trocknen. Ich entdeckte, dass die GPS-Einheit, das einzige Gerät, für das ich keine Ersatzbatterien dabeihatte, den ganzen Tag lang eingeschaltet gewesen war und Strom verbraucht hatte, und bekämpfte die Angst, die das in mir auslöste, indem ich mit noch mehr Klopapier-Wülsten alles Wasser und allen Schlamm vom refugio -Boden wischte. Schließlich wagte ich mich auf einen Felsvorsprung hinaus und hielt nach einem Lagerplatz jenseits der refugio -Penumbra aus Maultierkot Ausschau. Ein Bussard stieß genau über meinem Kopf herab; ein Uferwipper rief keck von einem Felsbrocken aus. Nach viel Lauferei und viel Für und Wider entschied ich mich für eine Senke, die einigermaßen Schutz vor dem Wind und keine Sicht auf das refugio bot, und dort picknickte ich Käse und Salami.
    Ich war seit vier Stunden allein. Ich baute mein Zelt auf, verzurrte das Gestell an einigen Felsen, beschwerte die Heringe mit den größten Steinen, die ich tragen konnte, und kochte auf meinem kleinen Butangaskocher Kaffee. Zurück im refugio , arbeitete ich an meinem Stiefeltrocknungsprojekt, wobei ich alle paar Minuten eine Pause einlegte, um die Fliegen, die beständig hereinfanden, aus dem Fenster zu scheuchen. Offenbar konnte ich mir den Komfort des refugio so wenig abgewöhnen wie die modernen Ablenkungen, denen zu entkommen ich doch angeblich hier war. Ich holte einen weiteren Schlauchvoll Wasser und nutzte den großen Topf und den Propangasherd, um Badewasser zu erhitzen, und es war, nach meinem Bad, einfach viel angenehmer , wieder reinzugehen und mich mit dem Microfaserhandtuch abzutrocknen und mich anzuziehen, als das alles draußen in Dreck und Nebel zu tun. Und weil ich schon so kompromittiert war, machte ich weiter und trug eine der Schaumstoffmatratzen runter zum Felsvorsprung und legte sie in mein Zelt. «Aber das war’s», sagte ich laut zu mir. «Jetzt ist Schluss.»
    Abgesehen vom Summen der Fliegen und dem gelegentlichen Ruf eines Uferwippers, war die Stille an meinem Lagerplatz vollkommen. Manchmal lichtete sich der Nebel ein bisschen, und ich konnte die felsigen Hänge und feuchten, farnbewachsenen Täler sehen, bevor sich der Vorhang wieder senkte. Ich holte mein Notizbuch hervor und notierte, was ich in den vergangenen sieben Stunden getan hatte: Wasser geholt, Mittag gegessen, Zelt aufgebaut, Bad genommen. Doch als ich in Erwägung zog, bekenntnishaft zu schreiben, in einer «Ich»-Stimme, stellte ich fest, dass ich mir meiner selbst dafür zu bewusst war. Offenbar hatte ich mich in den vergangenen fünfunddreißig Jahren derart daran gewöhnt, mich selbst zur Erzählung zu machen, mein Leben als Geschichte zu erleben, dass ich die Journale nur noch zur Problemlösung und zur Selbstbefragung nutzen konnte. Selbst mit fünfzehn, in Idaho, hatte ich nicht aus dem Innern meiner Verzweiflung geschrieben, sondern erst nachdem ich sie sicher überwunden hatte, und die Geschichten, die mir etwas bedeuteten, waren nun umso mehr jene, die – ausgewählt, geklärt – im Rückblick erzählt wurden.
    Mein Plan für den nächsten Tag war, einen Más-Afuera-Schlüpfer zu sehen. Allein das Wissen darum, dass es den Vogel hier gab, machte die Insel für mich interessant. Wenn ich losziehe, um neue Vogelarten zu beobachten, suche ich nach einer zumeist verlorenen Authentizität, nach den Überbleibseln einer Welt, die jetzt großteils von Menschen überlaufen ist, uns aber noch immer wunderbar gleichgültig gegenübersteht; einen seltenen Vogel zu erspähen, der irgendwie an seinem Leben aus Brüten und Füttern festhält, ist eine dauerhaft transzendente Freude. Ich beschloss, im Morgengrauen aufzustehen und, wenn nötig, den ganzen Tag dafür aufzuwenden, nach Los Inocentes zu finden und zurück. Von der Aussicht auf diese nicht wenig anspruchsvolle Aufgabe ermuntert, machte ich mir eine Schüssel Chili und zog, obwohl das Tageslicht noch nicht geschwunden war, den Reißverschluss

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