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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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Süchtigen, das geheime Ich, das, nach Jahrzehnten der Unterdrückung durch Nardil, schließlich seine Chance sah, auszubrechen und seinen selbstmörderischen Willen zu kriegen.
    Diese Dualität manifestierte sich in dem Jahr, nachdem er Nardil abgesetzt hatte. Er traf seltsame und scheinbar unsinnige Entscheidungen, was seine Behandlung betraf, stiftete unter seinen Seelenklempnern (die man nur dafür bedauern kann, einen so glänzend komplizierten Fall an sich gezogen zu haben) ziemlich viel Verwirrung und schuf sich am Ende ein geheimes Leben, das ganz dem Selbstmord gewidmet war. Im Verlauf dieses Jahres kämpfte der David, den ich gut kannte und maßlos liebte, tapfer gegen herzzerreißende Ausmaße von Angst und Schmerz, um sein Werk und seine Arbeit auf eine solidere Grundlage zu stellen, während der David, den ich weniger gut kannte, aber immer noch gut genug, um ihn nie gemocht und ihm immer misstraut zu haben, systematisch auf seine eigene Zerstörung sann und auf Rache an denen, die ihn liebten.
    Dass er in einer Schreibblockade steckte, als er sich entschloss, Nardil abzusetzen – dass er gelangweilt war von seinen alten Tricks und unfähig, genug Interesse für seinen neuen Roman aufzubringen, um mit ihm voranzukommen –, ist nicht unwichtig. Er hatte das Schreiben geliebt, ganz besonders im Fall von Unendlicher Spaß , und hatte, in unseren vielen Diskussionen über die Aufgaben des Romans, seiner Überzeugung sehr explizit Ausdruck verliehen, dass Literatur eine Lösung, die beste Lösung, für das Problem der existenziellen Einsamkeit sei. Literatur war sein Weg weg von der Insel, und solange es für ihn funktionierte – so lange, wie er in der Lage gewesen war, seine Liebe und Leidenschaft in die Vorbereitung seiner einsamen Depeschen zu gießen, und solange diese Depeschen als dringende und frische und ehrliche Nachrichten das Festland erreichten –, hatte er ein gewisses Maß an Glück und Hoffnung für sich selbst erreicht. Als die Hoffnung, die er in die Literatur gesetzt hatte, starb, nach Jahren des Ringens um den neuen Roman, gab es keinen anderen Ausweg als den Tod. Wenn Langeweile der Nährboden ist, in dem die Samen der Sucht keimen, und wenn Phänomenologie und Teleologie der Suizidalität die gleichen sind wie die der Sucht, dann scheint die Behauptung berechtigt, dass David an Langeweile starb. In seiner frühen Erzählung «Hier und dort» gibt der Bruder eines nach Perfektion strebenden jungen Mannes namens Bruce diesem zu bedenken, «wie langweilig ein vollkommener Mensch wäre», und Bruce erzählt uns:
    Ich beuge mich Leonards umfassendem und hart erarbeitetem Wissen über Langweiler, gebe aber zu bedenken, dass ein Langweiler unvollkommen wäre, per definitionem sei es daher ausgeschlossen, dass ein vollkommener Mensch langweilig sein könne.
    Das ist ein guter Witz; und doch ist die Logik irgendwie strangulatorisch. Es ist die Logik von «Alles und mehr», um noch einen von Davids Titeln aufzunehmen, und alles und mehr wollte er für seine Literatur. Das hatte schon einmal funktioniert, in Unendlicher Spaß . Doch wenn man versucht, einem Etwas, das schon alles ist, noch mehr hinzuzufügen, riskiert man, mit nichts dazustehen: selbst langweilig zu werden.
    Komischerweise wird Robinson Crusoe in achtundzwanzig Jahren auf der Insel der Verzweiflung niemals langweilig. Ja, er spricht von der Fron seiner frühen Mühen, später gibt er zu, es «herzlich müde» zu sein, die Insel nach Kannibalen abzusuchen, und er beschreibt sein erstes Jahr in der Gesellschaft von Freitag als «das schönste von allen, die ich auf der Insel verbrachte». Doch das moderne Verlangen nach Stimulation fehlt völlig. (Eines der frappierenden Details im Roman dürfte sein, dass Robinson mit «drei ansehnlichen Fässchen mit Rum und Weingeist» ein Vierteljahrhundert lang auskommt; ich hätte alle drei in einem Monat getrunken, schon um damit fertig zu sein.) Auch wenn er nie aufhört, vom Entkommen zu träumen, entdeckt er doch eine «Art heimlicher Lust» in seinem absoluten Besitzrecht an der Insel:
    Ich betrachtete die Welt als etwas ganz Fernes, was mich nichts mehr anging und wovon ich nichts mehr erwartete oder wünschte. Mit einem Wort: Ich wollte weder jetzt noch in Zukunft mehr etwas mit ihr zu tun haben. So wird man später vielleicht aus der Ewigkeit auf sie zurückblicken.
    Robinson kann seine Einsamkeit überleben, weil er Glück hat; er macht seinen Frieden mit den Umständen, weil er

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