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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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selbst gewöhnlich ist und seine Insel konkret. David, der außergewöhnlich und dessen Insel virtuell war, hatte zum Überleben schließlich nichts außer seinem eigenen interessanten Ich, und das Problem, aus sich selbst eine virtuelle Welt zu machen, ist dem Problem, sich in eine Cyberwelt zu stürzen, verwandt: Virtuelle Orte, in denen man Stimulation suchen kann, gibt es ohne Ende, aber eben diese Endlosigkeit, die permanente Stimulation ohne Befriedigung, wird zum Gefängnis. Alles und mehr zu sein ist auch der Ehrgeiz des Internets.
    Die schwindelerregende Stelle, an der ich im Regen umkehrte, war kaum einen Kilometer von La Cuchara entfernt, aber der Rückweg dauerte zwei Stunden. Der horizontale Regen hatte sich in Starkregen verwandelt, und es fiel mir schwer, im Wind aufrecht zu bleiben. Das GPS-Gerät meldete unentwegt «schwache Batterie», doch da die Sicht so schlecht war, dass ich die Richtung nicht halten konnte, musste ich es trotzdem immer wieder einschalten. Selbst als es anzeigte, dass das refugio nur fünfzig Meter entfernt sei, konnte ich den Dachfirst noch nicht ausmachen.
    Ich warf meinen durchnässten Rucksack ins refugio , lief runter zu meinem Zelt und fand es in einem Regenwasserbecken. Es gelang mir, die Schaumstoffmatratze herauszuzerren und ins refugio zu schaffen, und dann lief ich zurück und entpflockte das Zelt und ließ das Wasser ablaufen und raffte, bemüht, die Sachen drinnen halbwegs trocken zu halten, das ganze Ding zusammen und schleppte es durch den horizontalen Regen wieder bergauf. Das refugio war ein Katastrophengebiet aus durchnässten Kleidern und Ausrüstung. Ich verbrachte zwei Stunden mit diversen Trocknungsprojekten, gefolgt von einer Stunde, in der ich, vergebens, den Felsvorsprung nach einem entscheidenden Stück Zelt-Hardware absuchte, das ich auf meiner wilden Flucht verloren hatte. Und dann, binnen Minuten, hörte der Regen auf, und die Wolken verwehten, und mir wurde klar, dass ich die ganze Zeit an einem der dramatisch schönsten Flecken gewesen war, den ich je gesehen hatte.
    Es war später Nachmittag, und der Wind blies über den irrsinnig blauen Ozean, und es war Zeit. La Cuchara schien eher in der Luft zu schweben als der Erde verhaftet zu sein. Da war ein Gefühl von Beinahe-Unendlichkeit, die Sonne entlockte den Hängen mehr Grün- und Gelbtöne, als ich dem sichtbaren Spektrum zugetraut hätte, eine blendende Beinahe-Unendlichkeit von Farben, und der Himmel wirkte so unermesslich, dass es mich nicht gewundert hätte, am östlichen Horizont das Festland zu sehen. Weiße Fetzen übrig gebliebener Wolken kamen vom Gipfel gerast, jagten an mir vorbei und verschwanden. Der Wind blies auf die See hinaus, und ich fing an zu weinen, weil ich wusste, dass es Zeit war und ich mich nicht vorbereitet hatte, es mir gelungen war zu vergessen. Ich ging ins refugio und holte die kleine Schachtel mit Davids Asche, das «Booklet» – um den Ausdruck zu verwenden, mit dem er amüsiert auf sein gar nicht kurzes Buch über mathematische Unendlichkeit verwies –, und lief mit ihm zum Felsvorsprung zurück, den Wind im Rücken.
    Ich tat in jedem Augenblick lauter verschiedene Dinge. Selbst als ich weinte, suchte ich zugleich den Boden nach dem fehlenden Teil meines Zelts ab und zog meine Kamera aus der Tasche und versuchte, die himmlische Schönheit des Lichts und der Landschaft festzuhalten, und verfluchte mich dafür, weil ich doch eigentlich trauern sollte, und beruhigte mich, dass es okay sei, dass mein Versuch, den Más-Afuera-Schlüpfer zu sehen, bei meinem doch gewiss einzigen Aufenthalt auf der Insel, gescheitert war – dass es besser so sei, dass es Zeit sei, Endlichkeit und Unvollendetheit zu akzeptieren und gewisse Vögel für immer unbeobachtet zu lassen, dass die Fähigkeit, das zu akzeptieren, eben die Gabe sei, die mir gegeben worden war und meinem geliebten toten Freund nicht.
    Am Ende des Felsvorsprungs stieß ich auf ein Paar Felsblöcke, die zusammen eine Art Altar bildeten. David hatte sich entschieden, die Menschen, die ihn liebten, zu verlassen und sich der Welt des Romans und seiner Leser hinzugeben, und ich war bereit, ihm dafür alles Gute zu wünschen. Ich öffnete die Schachtel und schleuderte die Asche in den Wind. Stückchen grauer Knochen landeten auf dem Hang unter mir, aber der Staub wurde vom Wind mitgerissen und verschwand, hinaus auf den Ozean, in die blaue Kuppel des Himmels. Ich wandte mich um und wanderte den Berg hinauf, zurück

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