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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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hintergehen, indem er sich zu Hause umbrachte und sie damit zu unmittelbaren Zeugen seiner Tat machte. Und das Gleiche galt für den Selbstmord als Karriereschritt, der von jener Sorte bewunderungheischender Berechnung war, für die er sich verachtete und derer sich bewusst zu sein er (wenn er denn glaubte, damit durchzukommen) leugnen würde, um dann (wenn man ihn darauf festnagelte) lachend oder sich windend zuzugeben, dass er, yeah, okay, zu so etwas fähig sei. Ich stelle mir vor, dass die Seite von David, die für die Kurt-Cobain-Route plädierte, mit der verführerisch vernünftigen Stimme des Satans aus der Dienstanweisung für einen Unterteufel , einem von Davids Lieblingsbüchern, darlegte, dass der Tod durch eigene Hand zugleich seinen ekelhaften Hunger nach beruflichem Fortkommen stillen und darüber hinaus die Rechtmäßigkeit des Todesurteils bestätigen würde, da der Selbstmord eine Kapitulation vor der Seite seiner selbst bedeutete, die seine bedrängte gute Seite als böse begriff.
    Das soll nicht heißen, dass er seine letzten Monate und Wochen im lebhaften intellektuellen Dialog mit sich selbst verbrachte, à la Dienstanweisung oder Großinquisitor . Er war, gegen Ende, so krank, dass jeder neue aufkeimende Gedanke, den er hatte, egal zu welchem Thema, sich sogleich zur immerselben Überzeugung von der eigenen Wertlosigkeit verdrehte und ihm fortwährend Grauen und Schmerz verursachte. Und doch war einer seiner liebsten Tropen, besonders deutlich artikuliert in seiner Erzählung «In alter Vertrautheit» und in seiner Abhandlung über Georg Cantor, die unendliche Teilbarkeit eines einzelnen Augenblicks in der Zeit. Wie kontinuierlich er in seinem letzten Sommer auch litt, in den Fugen seiner identisch schmerzvollen Gedanken war immer noch jede Menge Raum, um die Idee des Selbstmords abzuwägen, durch deren Logik zu rasen und die praktischen Pläne zur Umsetzung (von denen er schließlich wenigstens vier machte) in Gang zu bringen. Wenn man beschließt, etwas sehr Schlechtes zu tun, gewinnen Absicht und Abwägung gleichzeitig und fertig ausgeformt sofort Gestalt; jeder Abhängige, der drauf und dran ist, rückfällig zu werden, kann ein Lied davon singen. Obwohl es schmerzhaft war, über den eigentlichen Selbstmord nachzudenken, wurde er – um auf noch eine Erzählung Davids anzuspielen – eine Art Geschenk an sich selbst.
    Bewundernde öffentliche Darstellungen Davids, die seinen Selbstmord als Beweis dafür nehmen, dass (wie Don McLean über van Gogh gesungen hat) «this world was never meant for one as beautiful as you», setzen einen ganzheitlichen David voraus, einen wunderbaren und höchst begnadeten Menschen, der, nachdem er das Antidepressivum Nardil nach zwanzig Jahren abgesetzt hatte, in tiefe Depression versank und deshalb nicht er selbst war, als er Selbstmord beging. Ich lasse die Frage nach der Diagnose (möglicherweise war er nicht einfach depressiv) ebenso beiseite wie die Frage, wie ein so wunderbarer Mensch zu einer derart lebhaften, intimen Kenntnis der Gedanken fieser Männer gekommen ist. Doch in Anbetracht seiner Vorliebe für die Dienstanweisung und seiner Neigung, sich selbst und andere zu betrügen – eine Neigung, die seine Jahre der Erholung in Schach hielten, aber nie ganz ausmerzten –, kann ich mir eine doppeldeutigere und doppelbödigere Darstellung vorstellen, die dem Geist seines Werks näherkommt. Wie er mir selbst erzählte, hat er nie aufgehört, sich vor einer Rückkehr in die geschlossene Psychiatrie zu fürchten, in der er nach seinem ersten Selbstmordversuch gelandet war. Die Verlockung des Selbstmords, des letzten großen Treffers, mag in den Untergrund gehen, aber sie verschwindet nie ganz. Sicher, David hatte «gute» Gründe, Nardil abzusetzen – seine Furcht, dass die langfristigen Nebenwirkungen das gute Leben, das er sich aufgebaut hatte, verkürzen könnten; sein Verdacht, dass die psychischen Nebenwirkungen das Beste an seinem Leben (seine Arbeit und seine menschlichen Beziehungen) beeinträchtigen könnten –, und er hatte auch weniger «gute» Ego-Gründe: einen perfektionistischen Wunsch, weniger auf Medikamente angewiesen zu sein; eine narzisstische Aversion dagegen, sich selbst als dauerhaft psychisch krank zu begreifen. Was ich aber schwer glauben kann, ist, dass er nicht auch sehr schlechte Gründe hatte. Unter seiner wunderbaren moralischen Intelligenz und seiner liebenswerten menschlichen Schwäche flackerte das alte Bewusstsein des

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