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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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aus, um daraus, dass sie sich selber lachen hören, den Schluss zu ziehen, das Gesehene müsse wahnsinnig komisch sein.) Und was das Arbeiterkind Martha Bessel betrifft, das im Originalstück von seinem Vater geschlagen und von der bürgerlichen Masochistin Wendla Bergmann glühend um diese Schläge beneidet wird: Was könnte im Jahre 2006 anderes aus ihr werden als ein geradezu heiliges junges Sinnbild sexuellen Missbrauchs? Ihre loyalen schwesterlichen Freundinnen stimmen mit ein, wenn sie «Was sich nicht erzählen lässt» («The Dark I Know Well») singt, eine Hymne auf den Kummer, für Erwachsene geschlechtlich interessant zu sein. An die Stelle der beängstigenden Nüchternheit, mit der Martha von ihrem Leben zu Hause erzählt (sie werde nur geschlagen, sagt sie, «wenn etwas Besonderes vorliegt»), tritt ein dichter moderner Nebel aus Sentimentalität und Arglist. Ein Team von Erwachsenen produziert ein Musical, dessen wesentliches Verkaufsargument Teenagersex ist (die ersten Broadway-Plakate zeigten, wie der Hauptdarsteller die Hauptdarstellerin besteigt) und dessen junge weibliche Charaktere ihrem überwiegend erwachsenen Publikum erst vorjammern, sie seien böse Mädchen und Liebes-Junkies, um kurze Zeit später davon zu singen, wie schrecklich und ganz ungerecht schmerzhaft es sei, als Teenager eine Sexualität zu besitzen, die Erwachsene fasziniert. Wenn der Weg von Bratz-Puppen über Britney-Klamotten dazu führt, dass ein Mädchen sich schließlich fühlt wie ein Stück Fleisch, das jemand anderem gehört, kann selbstverständlich nicht die kommerzielle Kultur schuld daran sein, denn die hat ja einen so tollen, rockenden Soundtrack, und niemand versteht Teenager besser als sie, niemand bewundert sie mehr, niemand arbeitet härter daran, dass sie sich authentisch fühlen, niemand besteht unermüdlicher darauf, dass junge Konsumenten immer recht haben, ob als Helden oder Opfer der Moral. Also muss etwas anderes schuld sein: vielleicht die amorphe Tyrannei, gegen die zu rebellieren der Rock and Roll sich noch immer einbildet, oder jene namenlosen Tyrannen, die all die lächerlichen Regeln aufstellen, die zu brechen uns die kommerzielle Kultur unaufhörlich drängt. Vielleicht sind die schuld. Am Ende gibt es nur eins, was Teenagern wirklich wichtig ist: Sie wollen ernst genommen werden. Und hier, neben allem, was Frühlings Erwachen als Material für ein kommerzielles Rock-Musical so gänzlich ungeeignet erscheinen lässt, liegt Frank Wedekinds schlimmstes Vergehen: Er macht sich genauso über Teenager lustig – ja er lacht sie rundweg aus –, wie er sie ernst nimmt. Und deshalb muss er heute, mehr denn je, zensiert werden.

    Der Begriff, den Wedekind als Untertitel für sein Stück gewählt hat, Eine Kindertragödie , hat einen merkwürdigen, unlösbaren, fast komischen Klang. Er weckt die Vorstellung von einer Tragödie, die sich bückt, um durch die Tür eines Spielhauses zu passen, oder von Kindern, die auf den Saum von Erwachsenenkostümen treten. Obwohl die Spätnachrichten das Wort Tragödie verwenden dürfen, wenn ein Jugendlicher sich das Leben genommen hat, liegen die herkömmlichen Eigenschaften einer tragischen Figur – Macht, Bedeutung, selbstzerstörerische Hybris, die Fähigkeit zu reifer moralischer Innenschau – per definitionem außerhalb der Reichweite von Kindern. Und was ist von einer «Tragödie» zu halten, in der die Hauptfigur, Melchior Gabor, unbeschadet überlebt?
    Über die Jahre haben sich viele Kritiker und Produzenten mit Wedekinds Untertitel arrangiert, indem sie das Stück als eine Art Tragödie revolutionärer Systeme gelesen haben. Bei dieser Lesart wird die Rolle des tragischen Helden nicht einem Individuum zugewiesen, sondern einer ganzen Gesellschaft, die ihre Kinder vernichtet, während sie sie doch zu lieben behauptet. Die ersten deutschen Inszenierungen von Frühlings Erwachen hoben diesen Aspekt des Stücks hervor und legten nahe, dass Wendla, Moritz und Melchior frühlingshafte, springlebendige Unschuldslämmer seien, die der längst überholten bürgerlichen Moral des 19. Jahrhunderts zum Opfer fielen. Emma Goldman schrieb 1914, das Stück sei eine «überzeugende Geißelung» der «Nöte und Qualen» von Kindern, die in «sexueller Ahnungslosigkeit» aufwüchsen. Aus Sicht des englischen Dramatikers und Regisseurs Edward Bond stellt, sechzig Jahre später, Frühlings Erwachen eine «technologische Gesellschaft» an den Pranger, in der «alles von der

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