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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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Willy Rudinoff, berühmt als Feuerschlucker und Vogelgesangsimitator. Einmal versuchte Wedekind, einen Zirkus zur Darbietung eines seiner Werke zu bewegen. Er gründete ein Münchner Kabarett namens «Die Elf Scharfrichter», in dem er auch selber auftrat. Im Lauf der Jahre stand er immer häufiger auf der Bühne, sowohl, um seine Beziehungen zu den Theatern zu festigen, als auch in zunehmendem Maße, um den antinaturalistischen Rhythmus vorzuführen, in dem seine späteren Stücke gesprochen werden sollten. 1906, als sich endlich Erfolg und Ruhm einstellten, heiratete er eine sehr junge Schauspielerin, Tilly Newes, die er für die Rolle der Lulu in seinen Stücken Die Büchse der Pandora und Erdgeist (die spätere Grundlage für Alban Bergs Oper Lulu ) ausgebildet hatte. Das Paar hatte zwei Töchter; sie behielten Wedekind als einen Vater in Erinnerung, der Kinder mit außergewöhnlichem Respekt behandelte, so als gäbe es zwischen ihnen und den Erwachsenen keinen signifikanten Unterschied.
    In den Jahren des Ersten Weltkriegs erkrankte Wedekind, zum Teil infolge der Strapazen der Schauspielerei, und starb 1918 an den Folgen einer Blinddarmoperation. Auf seiner Beerdigung in München gab es einen Aufruhr, der eines Rockstars würdig gewesen wäre. Viele illustre Köpfe der deutschen Literatur, darunter der junge Bertolt Brecht, waren gekommen, aber auch eine Meute der Jungen und Seltsamen und Irren – Angehörige einer kulturellen und sexuellen Boheme, die in Wedekind einen Verrückten sahen, der den Mut hatte, seine Verrücktheit auszuleben –, und diese Trauernden stürmten nun über den Friedhof, um gute Plätze am offenen Grab zu ergattern. Ein labiler Dichter namens Heinrich Lautensack, einer der Elf Scharfrichter, warf einen Rosenkranz auf den Sarg, sprang hinterher und schrie: «Für Frank Wedekind, meinen Lehrer, mein Vorbild, meinen Meister, von deinem unwürdigsten Schüler!», während einer seiner Freunde, ein Filmemacher aus Berlin, das Ganze für die Nachwelt aufnahm. Der exhibitionistische Trauergast und sein Komplize, der Kameramann: Die Rock-and-Roll-Welt war schon in Sicht.

    Ein brauchbares Beispiel für die fortdauernde Gefährlichkeit und Vitalität von Frühlings Erwachen war die abgeschmackte Musical-Fassung, die 2006, hundert Jahre nach der Welturaufführung des Theaterstücks, am Broadway Premiere hatte und augenblicklich mit Lob überschüttet wurde. Das Skript, von Wedekind 1891 fertiggestellt, war sexuell viel zu freizügig, um auf irgendeiner spätviktorianischen Bühne gespielt werden zu können. Als es schließlich, fünfzehn Jahre später, doch in Theatern auftauchte, wollte keine Stadtverwaltung in Deutschland oder anderswo es unzensiert durchgehen lassen. Und doch sind selbst die grausamsten Beschneidungen von damals harmloser als die Verstümmelung, der ein gefährliches Drama auf dem Weg zu einem zeitgenössischen Kassenschlager heute unterzogen wird.
    Der händeringende junge Moritz Stiefel, den Wedekind eines schlechten Zeugnisses wegen Selbstmord begehen lässt, verwandelt sich in der Musical-Fassung in einen Punkrocker von solchem Talent und Charisma, dass die Vorstellung, er könnte sich von einem schlechten Zeugnis deprimieren lassen, ziemlich abwegig scheint. Die beiläufige Vergewaltigung Wendla Bergmanns durch die Hauptfigur des Stücks, Melchior Gabor, wird zu einem donnernden Spektakel der Ekstase und des Einverständnisses. Und wo Wedekind den jungen, sinnlichen Hänschen Rilow der Masturbation widerstehen , ihn voller Widerstreben ein pornographisches Bild, das an seinem «armen Hirn zu zehren» droht, zerstören lässt, wird uns im 21. Jahrhundert eine choreographierte Orgie lustvollen Penispumpens und Samenschleuderns dargeboten. Ohne etwas Obszöneres zu brauchen als ein paar witzige, gewagte Doppeldeutigkeiten, brachte Wedekind Hänschens Not genau auf den Punkt. Er wusste, dass die Scham des Masturbierenden vor allem durch die Einsamkeit geschürt wird, erfasste die seltsam persönliche Zärtlichkeit des Masturbierenden für das virtuelle Objekt, verstand die zersetzende Autonomie sexueller Bilder; doch all das wäre für unsere pornogetränkte Modernität unangenehm relevant, und so ist das Musical genötigt, Wedekind zu zensieren und Hänschens Qualen als etwas lediglich Schmutziges darzustellen. (Das Ergebnis ist auf die gleiche Art «lustig», wie schlechte Sitcoms «lustig» sind: Zuschauer brechen bei jeder Erwähnung von Sex in nervöses Gelächter

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