Wellentraum
schüttelte in stummem Leugnen den Kopf.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte Reynolds leise. »Ich weiß, dass es ein Schock ist.«
»Ja.«
Margred zwang sich, das Gesicht auf dem Foto erneut zu betrachten. Man hatte versucht, es zu säubern, aber nichts konnte den dunkelvioletten Bluterguss am Kiefer vertuschen oder die aufgesprungenen und blutigen Lippen verbergen. Das eine Auge war fast zugeschwollen. Das andere … nur eine Höhle. Leer.
Margred zischte.
»Sind Sie sich sicher, dass Sie sie noch nie zuvor gesehen haben?«
»Es tut mir leid«, erwiderte Margred.
Aber sie sprach nicht mit den Detectives. Sie redete mit der Frau auf dem Bild.
Der ermordeten Selkie.
Gwyneth von Hiort.
[home]
17
D ie Detectives verließen Lucys Haus und nahmen das Foto und ihre Verdächtigungen mit sich.
Erschauernd schlang Margred die Arme um den Körper. Gwyneth war tot, abgeschlachtet und gehäutet wie eine junge Sattelrobbe. Sie konnte das Schicksal der anderen Selkie nicht verdrängen. Oder ihr eigenes noch länger ignorieren.
Welcher Dämon auch immer sie aus dem Dunkeln heraus überfallen hatte – er war noch auf der Jagd. Er konnte wiederkommen, um sie sich zu holen. Und er würde es wahrscheinlich tun.
Sie zog die Ellbogen näher an den Körper. Aber nicht nur die Gefahr, in der sie selbst schwebte, trieb sie um. Wenn ein anderer Elementargeist den Ihren auflauerte, wenn sich Feuer gegen Wasser wandte, dann ging es um mehr als Gwyneths Tod oder Margreds Leben. Das Gleichgewicht der Natur war in Gefahr. Was Vernichtung bedeutete – für die Erde und das Meer und alles, was Teil der Schöpfung war.
Ihre Art. Calebs Art. Alle.
Margred biss sich auf die Lippen, bis sie Blut schmeckte. Dies war die Aufgabe des Prinzen, sein Kampf. Sie war nicht auf dies hier vorbereitet. Sie war stets mit der Strömung geschwommen, war ganz aufgegangen im Kreislauf der Jahreszeiten, in Tauchen und Sonnen und Sex. Ihr fehlte das Wissen und die Übung, die Denkart und die Hinterlist, um einen Kampf unter Unsterblichen ausfechten zu können.
Sie saß, wie Regina sagen würde, in der Patsche.
Voller Angst vor ihrem eigenen Tod und dem, was danach kam.
Und fast zum ersten Mal seit Jahrhunderten war sie zornig. Unter dem Schock und der Angst glomm Wut in ihr wie ein Stück Kohle aus dem Feuer eines Dämons.
Gwyneth war in Margreds Revier eingedrungen und hatte Margreds Mann begehrt. Aber ob sie nun gewildert hatte oder nicht, Gwyneth hatte es nicht verdient zu sterben.
Die Haustür öffnete sich. Margred zuckte zusammen.
Caleb stand im Licht des Flurs, groß und geerdet wie eine Eiche, mit umschatteten Augen und sonnengebleichtem Haar. Winzige Linien der Erschöpfung oder Frustration hatten sich zwischen die Brauen gegraben und fassten auch den Mund ein.
Er sah gut aus, aufrichtig, wie er da stand, und sie vergaß, dass er ihr nicht glaubte. Vergaß, dass sie verärgert über ihn war. Eine große Welle der Sorge und Erleichterung trug sie von der Couch in seine Arme, ohne dass sie darüber nachgedacht oder gezögert hätte.
Er drückte sie an sich. Sie klammerte sich an ihn, musste die Festigkeit seines Körpers spüren, um sich zu vergewissern, dass er da war. Er war unversehrt. Es ging ihm gut.
Er drückte die Lippen auf ihr Haar. »Alles in Ordnung«, murmelte er.
Was nur bewies, dass er keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Ein Dämon war auf der Jagd, und diese beiden Detectives hatten ihn, Caleb, praktisch des Mordes bezichtigt.
Margred schloss die Augen. Er roch wunderbar, nach Erde und Sonnenschein, nach Schweiß und Caleb. Seine starken Arme umschlossen sie, und seine Schulter fühlte sich so hart und rund wie ein Apfel an. Seine Uniformknöpfe kratzten an ihrer Wange. Selbst diese Reibung war irgendwie beruhigend, eine Erinnerung daran, dass sie noch am Leben war.
Sie legte die Stirn an seine Brust und nahm den Trost und die Sicherheit seines Körpers in sich auf.
Es war nur ein vorübergehender Trost, rief sie sich in Erinnerung. Die Illusion von Sicherheit.
Aber alles an Zuflucht, was sie hatte.
»Du hast sie gekannt«, sagte er. Es war keine Frage.
Sie nickte an seiner Brust. Sein Herz schlug unter ihrer Hand, stark und sicher.
Seine Brust wurde beim Einatmen weit. »Wer war sie?«
»Sie hieß Gwyneth. Sie war eine Selkie.«
»Das habe ich mir schon gedacht.«
Margred hob den Kopf, um ihm ins Gesicht zu sehen. »Warum?«
Ein Winkel seines Mundes zuckte, aber seine Augen blieben ernst auf sie gerichtet.
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