Weltenende (German Edition)
jemals zuvor gespürt hatte. Sie zerrissen ihn innerlich, reduzierten sein ganzes Empfinden auf die Hand. Seine Knie wurden weich und nur mit Mühe gelang es ihm auf den Beinen zu bleiben. Er war es nicht … Er war nicht für das Zeichen bestimmt … Er war keiner des Lichts … Die Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Wie vermessen war es gewesen, das anzunehmen. Er hätte ablehnen sollen ...
Das Licht wurde schwächer; die Schmerzen verflogen, wie sie gekommen waren. Die Fanfare begann wieder zu spielen – oder hatte sie gar nicht aufgehört? Die Zeugen stampften auf den Lehmboden, bestätigten ihn als den Letzten der ihren und der Priester ließ ihn gehen. Augenblicklich wurde es schwarz um Jonas.
Er roch den Geruch des Stalls, Hufe scharrten unruhig auf dem Boden. Hastig sprang er auf, taumelte ein Stück und griff in die Tasche. Er tastete nach dem Schalter des kleinen Drucklichts und im Lichtfinger blickten ihn Kühe und Schafe an. Der alte Herbert wieherte, als lachte er über ihn.
KAPITEL I
Vor der Gangway winkte Tante Fanny hektisch. Marie rannte ihr entgegen und sprang in ihre Arme, was ihre Mutter beinahe von den Beinen holte. Carl schleppte das Gepäck auf den Steg, ließ alles fallen und Jonas blieb missbilligend bei den Sachen stehen, während auch Carl zu Fanny eilte. Auf dem Steg drängelten sich Touristen, die meisten von ihnen wollten an Bord, um zurück aufs Festland zu fahren.
„ Wir müssen doch nicht heimlaufen, oder?“ Carl drückte seine Mutter.
„Hey, Jonas, komm her!“, rief Tante Fanny und nahm ihn in den Arm. „Ich glaube, ihr seid schon wieder gewachsen.“
„ Das sagst du doch jedes Mal“, antwortete Jonas verlegen. „Kommt Barney nicht?“
„E r kommt doch immer zu spät. Kommt, Jungs, bringt die Sachen darüber!“
„ Können wir Barney nicht anrufen?“, quengelte Carl.
„S ei doch nicht so ungeduldig!“
„Wir sind seit heute Morgen um sechs unterwegs und J onas ist schlecht. Die Überfahrt hat es sicher nicht besser gemacht“, sagte Marie.
Ein mütterlicher Blick traf den großen, schlanken Jungen zu ihrer Rechten. Die hohen Wangenknochen, die schmalen Lippen und das kantige Kinn ließen ihn älter wirken, obwohl er vor ein paar Monaten erst seinen sechzehnten Geburtstag gefeiert hatte. Das karierte, etwas biedere Hemd tat das übrige. Der zweite Junge, Carl, Jonas zwei Monate jüngerer Cousin, war im Laufe des vergangenen Jahres fast genauso groß geworden wie er. Ihre schon immer vorhandene Ähnlichkeit war stärker ausgeprägt denn je. Wer es nicht besser wusste, hielt sie für Geschwister und das fanden sie auch nicht weiter schlimm.
„ Hast du genug getrunken und gegessen?“, fragte Fanny.
„Er hat gar nichts gegessen“, antwortete Marie an seiner statt und Jonas warf ihr einen säuerlichen Blick zu.
„ Es gibt sowieso bald essen; dann wird es bestimmt besser werden. Du hast leider den eisernen Magen deines Vaters nicht vererbt bekommen.“
„ Es ist alles in Ordnung. Mir ist nur ein wenig übel, mehr nicht.“
„ Es ist eine kabbelige See heute“, sagte Fanny und blickte aufs Meer.
Jonas wollte etwas erwidern, aber im selben Moment näherte sich der riesige Traktor mit Hänger. In voller Fahrt preschte er auf den Kai und die Leute, die an Bord der Fähre wollten, machten hastig Platz. „Wie war die Überfahrt?“, fragte Jonas Onkel laut durch die offene Tür.
Jonas lächelte. Er liebte die Insel, aber im Grunde kam er wegen Onkel Barney hierher. Er war das, was Jonas sich unter einem Vater vorstellte, nicht wie seiner, der kaum zuhause war. Jede Ferien verbrachte er hier, zusammen mit seinem Cousin und seiner Cousine, die drüben auf dem Festland in derselben Stadt, wo er bei seinen Eltern wohnte, das Internat besuchten.
Sie räumten das Gepäck auf den Hänger.
„Gehst du jetzt schon auf die Uni?“, fragte Fanny beiläufig.
„Er besucht schon Vorlesungen. Wir wissen bald gar nichts mehr, was er nicht schon weiß“, antwortete Marie.
„Ich kann auch selbst antworten “, sagte Jonas schärfer als nötig.
„Du redest doch scho n den ganzen Tag nicht richtig“, erwiderte Marie nicht weniger patzig und Fanny legte die Hand auf Jonas Schulter. „Alles in Ordnung? Wolltest du nicht herkommen?“
„Doch, natürlich.“ Und einen Moment später, weil er Fannys zweifelnden Blick wahrnahm, fügte er noch leise an: „Ich habe keine pubertäre Phase, falls du das denkst. Es ist alles in Ordnung.“
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