Wen der Rabe ruft (German Edition)
Dröhnen zum Leben zu erwachen. Der Camaro würde durchkommen, zumindest für heute. Sogar das Radio lief und spielte diesen Song von Stevie Nicks, bei dem Gansey jedes Mal »one-winged dove« statt »white-winged dove« verstand. Er probierte die Pommes, die sie ihm mitgebracht hatten. Sie waren kalt.
Adam beugte sich zu ihm ins Auto. »Wir folgen dir zurück zur Schule. So weit dürftest du kommen, aber fertig ist er noch nicht«, sagte er. »Irgendwas ist immer noch kaputt.«
»Okay«, erwiderte Gansey laut, um über den Motorenlärm gehört zu werden. Hinter ihm pumpte der BMW einen mehr spür- als hörbaren Bassrhythmus in die Luft, als Ronan das, was von seinem Herzschlag noch übrig war, in elektronischen Beats auflöste. »Und, irgendwelche Ideen?«
Adam griff in seine Tasche, zog ein kleines Blatt Papier hervor und reichte es ihm.
»Was ist das?« Gansey studierte Adams fahrige Handschrift. Bei ihm wirkten die Buchstaben immer, als wären sie auf der Flucht. »Ich soll eine Wahrsagerin anrufen?«
»Wenn du gestern Abend nichts gefunden hättest, wäre das sowieso der nächste Schritt gewesen. Jetzt hast du wenigstens etwas, wonach du sie fragen kannst.«
Gansey überlegte. Wahrsagerinnen erzählten ihm meistens nur, dass eine beträchtliche Summe Geld auf ihn zukam und ihm Großes vorherbestimmt war. Was Ersteres anging, so wusste er selbst, dass es zutraf, und bei Letzterem fürchtete er es. Aber vielleicht hätte ein neues Medium zu diesem aktuellen Hinweis ja endlich mal etwas anderes zu sagen.
»Okay«, willigte er ein. »Und was soll ich fragen?«
Adam reichte ihm das Aufnahmegerät. Dann klopfte er nachdenklich auf das Dach des Camaros, einmal, zweimal.
»Ist doch ganz klar«, antwortete er. »Wir müssen rausfinden, mit wem du da gesprochen hast.«
3
S o ein Morgen im Fox Way war eine furchtbar chaotische Angelegenheit. Man bekam Ellbogen in die Seite gerammt, stand in Schlangen vor dem Badezimmer und wurde angeblafft, weil man einen Teebeutel in einer Tasse versenkt hatte, in der sich bereits einer befand. Auf Blue wartete die Schule und auf einige der produktiveren (oder weniger hellseherischen) Tanten die Arbeit. Toast verbrannte, Müsli wurde matschig, der Kühlschrank musste minutenlang mit erwartungsvoll geöffneter Tür ausharren. Schlüssel klimperten, während hastig Fahrgemeinschaften ausgehandelt wurden.
Irgendwann während des Frühstücks klingelte unweigerlich das Telefon und Maura sagte: »Für dich, Orla. Das Universum auf Leitung zwei«, oder etwas in der Art, während Orla und Jimi oder eine der anderen Tanten oder Halbtanten oder Freundinnen sich darum zankten, wer den Anruf in der oberen Etage annehmen musste. Vor zwei Jahren hatte Blues Cousine Orla beschlossen, dass eine Wahrsager-Hotline ein lukratives Zusatzgeschäft wäre, und sich nach ein paar kurzen Grabenkämpfen mit Maura, die um ihr Image bangte, schließlich damit durchgesetzt. Na ja, genauer gesagt hatte Orla gewartet, bis Maura auf einer Wochenendkonferenz war, und die Hotline heimlich eingerichtet. Mittlerweile war das Ganze kein wirklich wunder Punkt mehr, sondern eher die Erinnerung an einen solchen. Die Anrufe fingen zumeist gegen sieben Uhr morgens an und an manchen Tagen schien der Dollar pro Minute, den sie damit verdienten, es mehr wert zu sein als an anderen.
So ein Morgen war wie Sport. Eine Disziplin, in der Blue, wie sie gern glauben wollte, stetig Fortschritte machte.
Doch am Tag nach der Kirchenwache musste Blue sich ausnahmsweise keine Sorgen machen, wie sie im Kampf um das Badezimmer abschneiden würde oder ob es ihr gelang, sich ein Pausenbrot zu schmieren, während neben ihr Orla ihren Toast auf die gebutterte Seite fallen ließ. Als sie aufwachte, fiel in ihr sonst so morgenhelles Zimmer mattes Nachmittagslicht. Nebenan telefonierte Orla entweder mit ihrem Freund oder einem der Hotline-Anrufer. Das war bei Orla manchmal schwer zu unterscheiden, doch beides weckte bei Blue das dringende Bedürfnis, hinterher zu duschen.
Vollkommen ungehindert belagerte Blue das Badezimmer, wo sie sich ausgiebig ihrer Frisur widmete. Ihr dunkles Haar war zu einem Bob geschnitten, lang genug für einen halbwegs ernst zu nehmenden Zopf und kurz genug, dass dafür eine ganze Reihe von Haarklammern vonnöten war. Das Resultat war ein stacheliger, unordentlicher Pferdeschwanz, garniert mit widerspenstig abstehenden Strähnen und nicht zusammenpassenden Spangen; das Ganze wirkte exzentrisch und struppig.
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