Wen der Rabe ruft (German Edition)
dass ein Aglionby-Junge an einem Herzinfarkt sterben soll. Wieso machst du dir dann überhaupt die Mühe, es deinen Kunden zu erzählen?«
»Damit sie ihre Angelegenheiten ordnen und alles erledigen können, was sie wollen, bevor sie sterben.« Ihre Mutter drehte sich um und schenkte Blue einen wissenden Blick. Sie wirkte so Respekt einflößend wie es jemandem, der barfuß und in Jeans mit einer Tasse Tee in der Hand, der nach modriger Erde roch, möglich war.
»Ich werde dich nicht davon abhalten, ihn zu warnen, Blue. Aber du solltest wissen, dass er dir nicht glauben wird, selbst wenn du ihn findest, und dass es ihn höchstwahrscheinlich nicht retten wird, wenn er Bescheid weiß. Vielleicht hältst du ihn davon ab, eine Dummheit zu begehen. Oder aber du ruinierst ihm die letzten Monate seines Lebens.«
»Du bist immer so wunderbar optimistisch«, fauchte Blue. Aber ihr war klar, dass Maura recht hatte – zumindest mit dem ersten Teil ihrer Ermahnung. So ziemlich jeder, den sie kennenlernte, war der Meinung, dass ihre Mutter ihr Geld mit billigen Tricks verdiente. Und was sollte Blue auch schon unternehmen – sich auf die Suche nach einem Schüler der Aglionby Academy machen, ans Fenster seines Land Rovers oder Lexus’ klopfen und ihm raten, seine Bremsen überprüfen zu lassen und seine Lebensversicherung zu erhöhen?
»Wahrscheinlich kann ich sowieso nicht verhindern, dass du ihn irgendwann triffst«, sagte Maura. »Zumindest wenn Neeves Vermutung, warum du ihn gesehen hast, stimmt. Dann ist es dein Schicksal, dass du ihm begegnest.«
»Schicksal«, wiederholte Blue und warf ihrer Mutter einen finsteren Blick zu. »Musst du denn schon vor dem Frühstück mit so großen Wörtern um dich werfen?«
»Alle außer dir«, erwiderte Maura, »haben schon vor Ewigkeiten gefrühstückt.«
Die Treppe knarzte, als Neeve zurückkam. »Verwählt«, verkündete sie auf ihre ausdruckslose Art. »Passiert das öfter?«
»Wir unterscheiden uns nur durch eine Ziffer von einem Begleitservice«, erwiderte Maura.
»Ah«, sagte Neeve. »Das erklärt einiges. Blue«, fügte sie dann hinzu, während sie wieder am Tisch Platz nahm, »wenn du möchtest, kann ich versuchen zu sehen, woran er gestorben ist.«
Was ihr sofort Mauras und Blues ungeteilte Aufmerksamkeit einbrachte.
»Ja«, sagte Blue.
Maura wollte etwas sagen, presste dann jedoch nur die Lippen aufeinander.
Neeve fragte: »Haben wir zufällig Traubensaft da?«
Verwirrt ging Blue an den Kühlschrank und hielt einen Getränkekarton hoch. »Geht auch Cranberry-Traube?«
»Das tut’s auch.«
Maura, deren Gesicht immer noch widerstreitende Gefühle verriet, öffnete einen Schrank und nahm eine dunkelblaue Salatschüssel heraus. Nicht gerade sanft stellte sie sie vor Neeve auf den Tisch.
»Ich übernehme keinerlei Verantwortung für das, was du siehst«, sagte Maura.
Blue fragte: »Wieso? Was soll das denn heißen?«
Keine der beiden Frauen antwortete.
Mit einem sanften Lächeln in ihrem sanften Gesicht goss Neeve den Saft in die Schüssel, bis sie randvoll war. Maura schaltete das Licht aus. Die Welt draußen erschien plötzlich viel leuchtender und lebendiger, verglichen mit der schummrigen Küche. Das helle Aprillaub an den Bäumen presste sich an die Fensterscheiben, grünes Blatt auf grünem Blatt auf Glas, und Blue war mit einem Mal sehr bewusst, dass sie von Bäumen umringt war; es war, als lebten sie mitten in einem schweigenden Wald.
»Wenn du zusehen willst, sei bitte still«, bemerkte Neeve an niemand Bestimmten gewandt. Blue zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Maura lehnte an der Arbeitsplatte und verschränkte die Arme. Ein seltener Anblick: Maura war verärgert, unternahm aber nichts.
»Wie war noch mal sein Name?«, wollte Neeve wissen.
»Er hat nur ›Gansey‹ gesagt.« Sie fühlte sich plötzlich befangen, als sie seinen Namen aussprach. Dadurch, dass sie möglicherweise Einfluss auf sein Leben oder seinen Tod hatte, war es, als sei sie für seine namentliche Anwesenheit in dieser Küche verantwortlich.
»Das reicht.«
Neeve beugte sich über die Schüssel, ihre Lippen bewegten sich und ihr dunkles Spiegelbild erzitterte auf der Oberfläche des Safts. Blue musste wieder daran denken, was ihre Mutter gesagt hatte:
»Ich übernehme keinerlei Verantwortung für das, was du siehst.«
Es ließ das, was hier passierte, viel gewichtiger erscheinen als gewöhnlich. Rückte es ab von einem bloßen Kunstgriff der Natur hin zu etwas
Weitere Kostenlose Bücher