Wen der Rabe ruft (German Edition)
Religiösem.
Schließlich begann Neeve zu murmeln. Blue konnte diesen wortlosen Lauten keine Bedeutung zuordnen, Maura dagegen blickte plötzlich triumphierend.
»Na«, sagte Neeve. »Das ist ja was.«
Sie betonte es so: »Das ist ja was«, und Blue ahnte, worauf das hinauslief.
»Was hast du gesehen?«, fragte Blue. »Wie ist er gestorben?«
Neeve wandte den Blick nicht von Maura ab. Ihre Antwort klang zugleich wie eine Frage. »Ich habe ihn gesehen. Und dann ist er verschwunden. Hat sich einfach in nichts aufgelöst.«
Maura drehte die Handflächen nach oben. Eine Geste, die Blue nur zu gut kannte. Damit hatte ihre Mutter schon unzählige Auseinandersetzungen beendet, nachdem sie das unschlagbare Argument vorgebracht hatte. Nur dass dieses unschlagbare Argument diesmal von einer Schüssel Cranberry-Traubensaft vorgebracht worden war und Blue keine Ahnung hatte, was es bedeuten sollte.
Neeve fuhr fort: »In einem Moment war er noch da und im nächsten hat er nicht mehr existiert.«
»Das kommt schon mal vor«, erklärte Maura, »hier in Henrietta. Es gibt einen Ort, den ich nicht sehen kann – oder vielleicht auch mehrere. Und manchmal sehe ich Dinge …«, an dieser Stelle mied sie so offensichtlich den Blick ihrer Tochter, dass Blue sofort klar war, wie viel Mühe es sie kostete, »die ich nie erwartet hätte.«
Plötzlich fielen Blue die vielen Male ein, die ihre Mutter darauf bestanden hatte, dass sie in Henrietta blieben, so teuer das Leben hier auch wurde, so oft sich auch die Gelegenheit bot, in eine andere Stadt zu ziehen. Einmal hatte Blue auf dem Computer ihrer Mutter ein paar E-Mails gelesen, in denen einer ihrer männlichen Kunden sie anflehte, sich Blue »und alles andere, ohne das du nicht leben kannst« zu schnappen und zu ihm in sein Reihenhaus in Baltimore zu ziehen. In ihrer Antwort hatte Maura ihn sachlich davon in Kenntnis gesetzt, dass dies nicht möglich sei, und zwar aus vielerlei Gründen. Zunächst einmal würde sie Henrietta niemals verlassen und außerdem, wer könne ihr denn garantieren, dass er kein verrückter Axtmörder war? Daraufhin hatte er nichts als ein trauriges Smiley-Gesicht zurückgemailt. Blue fragte sich immer mal wieder, was wohl aus ihm geworden war.
»Ich würde gern wissen, was du gesehen hast«, sagte Blue. »Was soll denn dieses ›nichts‹ sein?«
Neeve berichtete: »Ich bin dem Jungen, den wir gestern gesehen haben, zu seinem Tod gefolgt. Das Ereignis lag ziemlich nahe, zeitlich gesehen, aber dann ist er an irgendeinen Ort verschwunden, den ich nicht sehen konnte. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Ich dachte, es läge an mir.«
»Tut es nicht«, sagte Maura. Auf Blues noch immer fragenden Blick hin erklärte sie: »Es ist in etwa so, wie wenn der Fernseher kein Bild zeigt, aber man merkt, dass er noch läuft. So sieht es aus. Allerdings habe ich noch nie jemanden darin verschwinden sehen.«
»Tja, er ist darin verschwunden.« Neeve schob die Schüssel von sich. »Du hast gesagt, das sei noch nicht alles. Was gibt es sonst noch zu sehen?«
Maura erwiderte: »Programme, die man mit dem normalen Kabelempfang nicht reinkriegt.«
Neeve trommelte mit ihren hübschen Fingern auf den Tisch, nur ein Mal, dann sagte sie: »Davon hast du ja noch nie etwas erzählt.«
»Es schien mir nicht wichtig«, rechtfertigte sich Maura.
»Ein Ort, an dem junge Männer verschwinden, erscheint mir nicht gerade unwichtig. Genauso wie übrigens die Fähigkeit deiner Tochter.« Neeve richtete ihren unwirklichen Blick auf Maura, die sich von der Arbeitsplatte abstieß und wegdrehte.
»Ich muss heute Nachmittag arbeiten«, sagte Blue schließlich, als ihr klar wurde, dass das Gespräch beendet war. Das Spiegelbild der Blätter vor dem Fenster wogte langsam in der Schüssel auf und ab, noch immer ein Wald, aber ein sehr dunkler.
»Willst du wirklich so gehen?«, erkundigte sich Maura.
Blue sah an sich herunter. Sie trug ein paar dünne Shirts im Lagen-Look übereinander, von denen sie das oberste mithilfe einer Technik namens Shredding bearbeitet hatte. »Was gibt es denn daran auszusetzen?«
Maura zuckte mit den Schultern. »Ach, nichts. Schließlich habe ich mir immer eine exzentrische Tochter gewünscht. Ich hätte nur nicht erwartet, dass mein teuflischer Plan so gut funktionieren würde. Bis wann geht deine Schicht?«
»Bis sieben. Das heißt, es könnte auch später werden. Cialina soll eigentlich bis halb acht bleiben, aber sie redet schon die ganze Woche
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