Wen der Rabe ruft (German Edition)
Daran hatte Blue hart gearbeitet.
»Mom?«, rief sie, während sie die schiefen Treppenstufen hinunterhüpfte. Maura war in der Küche und veranstaltete eine Riesensauerei mit irgendwelchen grauenhaft riechenden Teeblättern.
Ihre Mutter drehte sich nicht um. Rechts und links von ihr lagen grüne Häufchen auf der Arbeitsplatte, die aussahen, als wären sie gerade aus dem Meer gefischt worden. »Musst du immer so rennen?«
»Machst du doch auch«, gab Blue zurück. »Warum hast du mich nicht für die Schule geweckt?«
»Hab ich«, sagte Maura. »Zwei Mal.« Und dann, zu sich selbst: »Verdammt.«
»Soll ich dir helfen, Maura?«, erklang vom Tisch her Neeves sanfte Stimme. Sie saß vor einer Tasse Tee und wirkte so engelhaft-rundlich wie immer. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sie in der Nacht zuvor zu wenig Schlaf bekommen hatte. Neeve starrte Blue an, die ihrem Blick auszuweichen versuchte.
»Ich bin durchaus in der Lage, diesen verdammten Meditationstee allein zusammenzumischen, danke der Nachfrage«, antwortete Maura. Und zu Blue sagte sie: »Ich habe in der Schule angerufen und gesagt, dass du einen Magen-Darm-Infekt hast. Besonders betont habe ich, wie heftig du dich übergeben musst. Also gib dir morgen Mühe, ein bisschen leidend auszusehen, ja?«
Blue presste sich die Handballen auf die Augen. Noch nie hatte sie am Tag nach der Kirchenwache die Schule geschwänzt. Natürlich war sie müde gewesen, aber nie so vollkommen erschöpft wie letzte Nacht.
»Liegt es daran, dass ich ihn gesehen habe?«, fragte sie Neeve und ließ die Hände sinken. Sie wünschte, sie hätte sich nicht so gut an den Jungen erinnern können. Oder, besser gesagt, an die Vorstellung von ihm, seine Hand, die sich in die Erde presste. Sie wünschte, sie hätte das Bild aus ihrem Gedächtnis löschen können. »Habe ich deswegen so lange geschlafen?«
»Es liegt wohl eher daran, dass fünfzehn Geister durch deinen Körper marschiert sind, während du mit einem toten Jungen geplaudert hast«, erklärte Maura unwirsch, bevor Neeve etwas sagen konnte. »Zumindest habe ich das so gehört. Mein Gott, sollen diese Teeblätter so stinken?«
Blue wandte sich zu Neeve um, die weiterhin gut gelaunt an ihrem Tee nippte. »Ist das wahr? Es sind Geister durch meinen Körper gegangen?«
»Du hast zugelassen, dass sie dir deine Energie rauben«, gestand Neeve. »Davon hast du zwar eine ganze Menge, aber so viel nun auch wieder nicht.«
Sofort schossen Blue zwei Gedanken durch den Kopf. Nummer eins: »Ich soll eine Menge Energie haben?«, und Nummer zwei: »Ich glaube, jetzt bin ich sauer.« Sie hatte diese Geister ja nun kaum dazu eingeladen, ihr die Kraft auszusaugen.
»Du solltest ihr beibringen, wie sie sich schützen kann«, tadelte Neeve Maura.
»Ich habe ihr das eine oder andere beigebracht, ich bin ja schließlich keine völlige Rabenmutter«, erwiderte Maura und reichte Blue eine Tasse Tee.
Blue sagte: »Das trinke ich nicht. Riecht ja widerlich.« Sie holte sich einen Becher Joghurt aus dem Kühlschrank. Dann, um ihrer Mutter den Rücken zu stärken, sagte sie zu Neeve: »Bisher musste ich mich bei einer Kirchenwache noch nie vor irgendetwas schützen.«
»Das überrascht mich«, sagte Neeve nachdenklich. »Du verstärkst Energiefelder so sehr, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie dich sogar hier fänden.«
»Nun hör aber auf«, unterbrach Maura sie gereizt. »Vor Toten braucht man absolut keine Angst zu haben.«
Blue sah immer noch Ganseys geisterhafte Gestalt vor sich, resigniert und verstört. Sie fragte: »Mom, diese Geister bei der Kirchenwache … kann man ihren Tod noch abwenden? Indem man sie warnt?«
Das Telefon klingelte. Es schrillte zweimal und dann immer weiter, was bedeutete, dass Orla mit ihrem Anrufer noch immer die Leitung blockierte.
»Verdammt noch mal, Orla!«, fluchte Maura, obwohl Orla sie nicht hören konnte.
»Ich gehe ran«, erklärte Neeve sich bereit.
»Aber …« Maura beendete den Satz nicht. Blue fragte sich, ob sie daran dachte, dass Neeve normalerweise viel mehr als einen Dollar pro Minute verdiente.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte ihre Mutter, nachdem Neeve die Küche verlassen hatte. »Aber die meisten sterben an Herzinfarkten oder Krebs oder anderen Sachen, die sich einfach nicht verhindern lassen. Dieser Junge wird sterben.«
Blue spürte plötzlich einen Nachhall des Gefühls von letzter Nacht, wieder diesen eigentümlichen Kummer. »Ich kann mir nicht vorstellen,
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