Wende
Wiederentdeckens, Verfehlens, unzählige Momente der Verzerrungen, Anfechtungen, Wandlungen und des erneuten Vergessens. Und doch gibt es so etwas wie eine Leben stiftende Verbindung. Versteckt hinter der Weltauffassung, die ich als meine eigene begreife, gibt es ein uraltes Gedicht, ein Gedicht, das irgendwann verloren ging, unwiederbringlich, wie es schien, und dann doch wiederentdeckt wurde.
Die philosophische Tradition, der Lukrez’ Gedicht entsprang, war unvereinbar mit dem Kult der Götter und dem Kult des Staates; diese
Tradition wurde selbst in der toleranten Kultur der klassisch-antiken Welt des Mittelmeers als skandalös empfunden. Ihre Anhänger galten als Verrückte, wurden als gottlos gebrandmarkt oder schlicht als verrückt. Und kaum hatte das Christentum an Kraft gewonnen, wurden die Texte der Atomisten erst recht bekämpft, verspottet, verbrannt oder – was am nachhaltigsten wirkte – einfach übergangen und schließlich vergessen. Das alles ist nicht verwunderlich; viel erstaunlicher ist, dass eine so überwältigend prachtvolle Artikulation dieser Philosophie – das Gedicht, dessen Wiederentdeckung Gegenstand dieses Buches ist – überlebt hat und erhalten blieb. Von ein paar Kleinigkeiten abgesehen, ist alles, was von dieser großartigen Tradition blieb, in diesem einen und einzigartigen Werk erhalten. Ein zufälliger Brand, ein Akt des Vandalismus, eine Entscheidung, diese letzte Spur dessen zu verwischen, was als häretisch galt, und Neuzeit und Moderne hätten einen völlig anderen Beginn und Verlauf genommen.
Dabei hätte von allen Meisterwerken der Antike gerade dieses Gedicht unbedingt verschwinden müssen, ein für alle Mal und zusammen mit den Werken, die es inspiriert hatten. Dass dies nicht geschah, dass es nach vielen Jahrhunderten wieder auftauchte und seine zutiefst subversiven Thesen erneut verbreiten konnte, grenzt, so möchte man denken, an ein Wunder. Der Autor des in Frage stehenden Gedichts aber glaubte nicht an Wunder. Nichts in der Welt, dachte er, sollte die Gesetze der Natur verletzen. Er setzte auf etwas anderes, auf etwas, das er lateinisch clinamen nannte: eine geringfügige Abweichung, ein zufälliger Richtungswechsel, Ruck und unerwartete Bewegung der Materie. 2 Das Wiederauftauchen seines Gedichts war eine solche Irritation, ein plötzliches Aus-der-Richtung-Geraten, eine unvorhersehbare Abweichung vom eingeschlagenen Weg, der dem Gedicht und der es begründenden Philosophie bestimmt schien – und der, ohne diesen Ruck, ins Vergessen geführt hätte.
Als es nach einem Jahrtausend plötzlich wieder Verbreitung fand, erschien vieles absurd, was dieses Werk über ein Universum sagte, das entstanden sein sollte aus dem Zusammenstoß von Atomen in einer unendlichen Leere. Ausgerechnet das jedoch, was zunächst als gottlos und unsinnig betrachtet wurde, hat sich später als Basis unseres gegenwärtigen, rationalen Weltverständnisses erwiesen. Es geht hier nicht nur um die überraschende
Entdeckung von Schlüsselelementen der Moderne in der Antike, wobei es sicher nichts schadet, wenn wir uns erinnernd vor Augen führen, dass gerade die griechischen und römischen Klassiker, die wir aus unseren Curricula gestrichen haben, das neuzeitlich-moderne Bewusstsein entscheidend bestimmt haben. Vielleicht noch mehr wird uns überraschen, wenn uns De rerum natura auf jeder Seite klarmacht, dass die wissenschaftliche Sicht der Welt – die Vision von Atomen, die sich zufällig durch ein unendliches Universum bewegen – erfüllt ist vom Gespür für das Wunderbare, wie es nur ein Dichter besitzt. Doch Wunder sind hier nicht länger die Sache von Göttern und Dämonen, von Träumen vom Leben im Jenseits; bei Lukrez entspringt das Wunderbare der Erkenntnis, dass wir aus der gleichen Materie gemacht sind wie Sterne und Meere und alle anderen Dinge auch. Und diese Erkenntnis lieferte die Grundlage für seine Vorstellungen davon, wie wir unser Leben führen sollten.
Nach meiner Meinung, und ganz sicher nicht nur nach dieser, war es die Renaissance, die von allen in der Nachfolge der Antike stehenden Kulturen am genauesten verkörpert hat, was Lukrez’ Sinn für Schönheit und Lust ausmacht und was er zu einem legitimen, den Menschen würdigen Streben entfaltet. Dieses Streben beschränkte sich nicht allein auf die Kunst. Es prägte Kleidung und Etikette an den Höfen, die Sprache der Liturgie, Gestaltung und Schmuck der Alltagsdinge. Es durchdrang Leonardo da Vincis
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