Wende
Vesalius, eines Giordano Bruno oder William Harvey, eines Hobbes und Spinoza kommen konnte. Der Wandel kam nicht plötzlich, geschah nicht ein für alle mal, sondern schrittweise, zunehmend wurde es möglich, sich aus der Präokkupation mit Engeln und Dämonen und immateriellen Ursachen zu lösen, sich stattdessen den Dingen in dieser Welt zuzuwenden; zu erkennen, dass die Menschen aus dem gleichen Stoff bestehen wie alles andere auch; dass sie Teil der natürlichen Ordnung sind; dass man, ohne fürchten zu müssen, in Gottes eifersüchtig bewahrte Geheimnisse einzubrechen, Experimente durchführen, Autoritäten anzweifeln, überlieferte Lehren in Frage stellen kann; dass sich das Streben nach Lust, das Vermeiden von Schmerz und Leid rechtfertigen lassen; dass man sich andere
Welten vorstellen kann neben der einen, die wir bewohnen, den Gedanken fassen kann, dass unsere Sonne nur ein Stern ist unter vielen in einem unendlichen Weltenraum; dass wir ein moralisches Leben führen können, ohne dass man uns mit Lohn locken, mit Strafe nach dem Tod schrecken müsste; ja, dass sich sogar der Tod der Seele ohne Furcht und Zittern denken lässt. Kurz, es wurde, um Audens Dichterworte zu bemühen, möglich – nicht einfach, aber möglich –, an der sterblichen Welt sein Genügen zu finden.
Der Anbruch der Renaissance, das Freisetzen der Kräfte, die unsere Welt geformt haben, lässt sich nicht aus einem einfachen Grund erklären. Gleichwohl möchte ich mit diesem Buch eine wenig bekannte, für die Renaissance jedoch exemplarische Geschichte erzählen, die Geschichte von Poggio Bracciolinis Wiederentdeckung des Gedichts De rerum natura. Diese Wiederentdeckung hat den Vorzug, dass sie auch der Bezeichnung die Treue hält, mit der wir den kulturellen Wandel zu Beginn des neuzeitlich modernen Lebens und Denkens für gewöhnlich umreißen: als ReNaissance, Wiedergeburt der Antike. Natürlich kann man ein Gedicht allein nicht verantwortlich machen für eine so umfassende geistige, moralische und gesellschaftliche Transformation – das vermag ein einziges Werk nicht, und schon gar nicht eines, über das man jahrhundertelang nicht ohne Furcht öffentlich und frei hatte reden können. Mit diesem ganz besonderen Buch der Antike, das plötzlich in den Blick geriet, verhielt es sich allerdings doch etwas anders.
So ist hier zu erzählen, wie die Welt plötzlich um ein Geringes aus der Bahn gestoßen wurde, ein zufälliger Ruck, der einen folgenreichen Richtungswechsel auslöste. Das Agens dieses Richtungswechsels war keine Revolution, keine unversöhnliche Armee vor den Toren der Stadt, keine Landung auf einem unbekannten Kontinent. Für Ereignisse dieser Größenordnung haben Historiker und Künstler der volkstümlichen Einbildungskraft erinnerbare, einprägsame Bilder präsentiert, den Sturm auf die Bastille, die Plünderung Roms, den Augenblick, in dem die zerlumpten Seeleute auf den spanischen Schiffen in der Neuen Welt ihre Fahne aufpflanzten. Diese Embleme weltgeschichtlichen Wandels können trügerisch sein – in der Bastille saßen so gut wie keine Gefangenen; Alarichs Heerscharen zogen rasch wieder ab aus der Hauptstadt des Imperiums; und das
eigentlich schicksalhafte Ereignis für den amerikanischen Kontinent war nicht das Entrollen der Fahne, sondern dass ein kranker, bazillenverseuchter, von staunenden Eingeborenen umringter Seemann nieste oder hustete. Dennoch können wir uns in solchen Fällen an das einprägsame Symbol halten. Der epochale Wandel allerdings, mit dem dieses Buch sich befasst, lässt sich, obwohl er doch das Leben von uns allen beeinflusst hat, nicht ohne weiteres mit einem dramatischen Bild verknüpfen.
Als es vor fast sechshundert Jahren zu diesem Wandel kam, war das Schlüsselereignis verhüllt, fast unsichtbar, geschah versteckt, unsichtbar hinter Wänden an einem abgelegenen Ort. Es gab keine heroischen Gesten, keine leidenschaftlich beteiligten Beobachter, die das große Ereignis für die Nachwelt festgehalten hätten, weder Zeichen am Himmel noch auf Erden hätten auf irgendeine Weise erkennen lassen, dass alles sich für immer geändert hatte. Eines Tages streckte ein kleiner, genialer, ebenso umsichtiger wie aufmerksamer Mann Ende dreißig seine Hand aus, um ein sehr altes Manuskript aus einem Regal zu nehmen, betrachtete überrascht, was er entdeckt hatte, und erteilte sofort den Auftrag, die Schrift zu kopieren. Das war alles, aber es war genug.
Natürlich hat der Entdecker des
Weitere Kostenlose Bücher