Wende
Manuskripts die Bedeutung dessen, was er sah, gar nicht voll erfassen, auch den Einfluss nicht vorausahnen können, der Jahrhunderte brauchte, um sich zu entfalten. Wenn er denn geahnt hätte, welche Kräfte er da losließ, hätte er es sich wohl zweimal überlegt, ein so explosives Werk aus dem Dunkel zu ziehen, in dem es schlummernd lag. Das Werk, das jener Mann in den Händen hielt, war Jahrhunderte zuvor sorgfältig von Hand kopiert worden, doch ebenso lange war es nicht von Hand zu Hand gegangen, war vielleicht nicht einmal von den einsamen Seelen verstanden worden, die es kopiert hatten. Über Generationen hinweg wurde über dieses Buch nicht einmal gesprochen. Zwischen dem vierten und dem neunten Jahrhundert wurde es noch gelegentlich zitiert, und zwar in Listen mit grammatischen oder lexigraphischen Beispielsätzen, diente also als Steinbruch zur Demonstration korrekt verwendeten Lateins. Im siebten Jahrhundert, als er seine riesige Enzyklopädie erstellte, nutzte es Isidor von Sevilla als Autorität in Sachen Meteorologie. Erneut tauchte es auf zur Zeit Karls des Großen, als sich das Interesse an alten Büchern zum ersten Mal regte und ein irischer Mönch
namens Dungal eine Abschrift sorgfältig korrigierte. Nach diesen flüchtigen Augenblicken des Wiederauftauchens versank es stets wieder in den Wellen. So lag es schlafend und vergessen über tausend Jahre, bevor es erneut in Umlauf kam.
Verantwortlich für diese folgenreiche Rückkehr war Poggio Bracciolini, ein passionierter Briefschreiber. Er verfasste einen Bericht über seine Entdeckung und schickte sie an einen Freund zuhause in Italien; der Brief ging leider verloren. 4 Allerdings lässt sich anhand anderer Briefe sowohl aus Poggios Feder wie auch aus Briefen seines Kreises rekonstruieren, wie die Sache sich entwickelt hat. Aus unserer Perspektive ist dieses eine und besondere Manuskript zu Poggios größtem Fund geworden, war aber beileibe nicht sein einziger, und er verdankte sich auch nicht dem Zufall. Poggio Bracciolini war ein Bücherjäger, vielleicht der größte in einer Zeit, die versessen darauf waren, das Erbe der antiken Welt aufzuspüren und wieder zu entdecken.
Der Fund eines verlorenen Buches gilt gemeinhin nicht als besonders aufregendes Ereignis, doch in diesem Fall sind damit die Verhaftung und Gefangenschaft eines Papstes, Scheiterhaufen für Ketzer und ein großes, die ganze damalige Kultur explosionsartig erfassendes Interesse an der heidnischen Antike verknüpft. Dem Akt der Entdeckung galt die lebenslange Leidenschaft eines brillanten Buchjägers. Und dieser wurde, ohne es gewollt oder bemerkt zu haben, zum Geburtshelfer der Moderne.
KAPITEL EINS
DER BÜCHERJÄGER
I m Winter 1417 reitet Poggio Bracciolini durch die bewaldeten Täler und Höhen Süddeutschlands seinem fernen Ziel entgegen, einem Kloster, von dem es heißt, es beherberge ein geheimes Lager alter Handschriften. Dorfleute, die in den Türen ihrer Häuser stehen und ihm nachsehen, erkennen sofort, dass er ein Fremder ist. Schlank von Gestalt und glatt rasiert, 1 wird er vermutlich nicht aufwändig gekleidet gewesen sein, in einfachem, aber gut geschnittenem Rock und Überwurf. Auch dass er nicht vom Land kommt, sieht man sofort. Aber er erinnert auch nicht an einen Städter oder Höfling, wie sie das Bauernvolk hin und wieder zu Gesicht bekommt. Er ist unbewaffnet, reist ohne Schutz eines rasselnden Trupps von Kriegsleuten, ist also gewiss kein teutonischer Ritter – ein beherzter Schlag mit der Keule eines Bauerntölpels würde ihn ohne weiteres zu Boden strecken. Er wirkt nicht wie ein Armer, doch sieht man auch keines der vertrauten Zeichen von Reichtum und Stand: Er ist kein Höfling mit prachtvollen Gewändern und parfümiertem, in langen Locken getragenem Haar, kein Edelmann auf Jagd oder Beiz. Aber wie Haartracht und Kleidung zeigen, ist er auch kein Priester oder Mönch.
Süddeutschland war damals eine blühende Region. Die Katastrophen des Dreißigjährigen Krieges, die diesen Landstrich verwüsten und ganze Städte ruinieren sollten, lagen noch in ferner Zukunft, ebenso die Schrecken unserer Zeit, die viel von dem zerstörten, was aus jener frühen Epoche geblieben war. Es reisten damals nicht nur Ritter, Höflinge und Adlige, auch andere wohlhabende Männer zogen geschäftig über die ausgefahrenen Straßen. Ravensburg nördlich des Bodensees und Konstanz waren im Leinenhandel engagiert, und kürzlich hatte man dort auch begonnen, Papier zu
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