Wendland & Adrian 02 - Die Krypta
Vermutlich ist meine Leber restlos hinüber, dachte er.
Für einen Augenblick hatte er so etwas wie eine Vision. Er sah Karla, wie sie vor zwanzig Jahren ausgesehen haben musste. Damals hätte er sie gerne gekannt und geliebt. Ihr Haar war nicht grau und strähnig und verfilzt, sondern voll und gelockt, schimmernd im Licht der Scheinwerfer, die das Domportal anstrahlten.
Er beugte sich zu Karlas Gesicht herunter, das in dieser sonderbaren Verzauberung zu den verwitternden Steinen hinauf starrte, und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich wünschte, du wärst einer von den Engeln da oben. Du bist genauso schön wie sie, oder sogar noch schöner. Alle Touristen würden dich bewundern und fotografieren und du müsstest nicht mehr frieren. Steine frieren nicht... «
Hannes wusste nicht, ob sie ihn gehört hatte. Manchmal bekam sie mit, was man sagte, manchmal nicht.
»Komm«, sagte er, »wir suchen uns irgendwo ein warmes Plätzchen. Vielleicht finden wir ja noch einen Bruder mit einer Flasche.«
Er zog sanft an Karlas Hand, und sie ließ sich von ihm wegführen. Sie gingen um den Südturm des Doms herum, so dass Hannes den verlassen daliegenden Roncalliplatz vor dem Römisch-Germanischen Museum überblicken konnte. Als sie gerade zwischen dem Brunnen und dem Toilettenhäuschen hindurchgingen, blieb Karla plötzlich stehen und zeigte hinüber zum in den Platz hineinragenden südlichen Querhaus der Kathedrale.
»Südliches Querhaus«. Hannes kannte alle diese Begriffe genau. Er hatte für Karla einen Domführer vom Wühltisch vor einer Buchhandlung geklaut und
ihn ihr von vorne bis hinten vorlesen müssen. Karla konnte ohne Brille nicht mehr lesen und eine Brille besaß sie natürlich nicht.
»Da kommen Gespenster aus dem Dom«, sagte sie mit schwerer Zunge. »Bestimmt machen die Waldfeen und Kobolde Jagd auf die toten Bischöfe und die Bischöfe flüchten nach draußen.«
Hannes' Augen waren das, was seiner Ansicht nach an seinem Körper noch am besten funktionierte. Ein Stück vor dem Querhaus gab es in der mächtigen Seitenwand des Doms eine im Vergleich zu den großen Portalen winzige Tür. Hannes kannte diese Tür gut, weil er einmal morgens ein paar Meter vor ihr aufgewacht war, unter den spärlichen Bäumen, die dort standen, und mit dem Gestank des nahen Toilettenhäuschens in der Nase. Oder vielleicht war es auch sein eigener gewesen. Jedenfalls fand er die Ecke scheußlich, mit diesen merkwürdigen, schmutziggrauen Holzplatten, die dort aus unerfindlichen Gründen die Außenwand des Doms verschandelten. Also hatte er gemacht, dass er weiterkam.
Jetzt stand diese Tür offen. Zwei Gestalten schleppten etwas Schweres heraus und schauten sich dabei nervös um. Offenbar reichte ihr Blick aber nicht weit genug, um Hannes und Karla zu bemerken, die einsam und verloren neben dem wasserlosen Brunnen standen. Die beiden Gestalten, soweit Hannes sehen konnte Männer in dunklen Anzügen, trugen das Schwere, das Hannes inzwischen als menschlichen
Körper identifiziert hatte, ein paar Meter von der Tür weg und legten es auf den Boden. Sie machten kehrt und verschwanden eilig in der Türöffnung. Mit einem dumpfen Schlag, der weit über den leeren Platz hallte, fiel die Tür zu. Dann war es wieder still.
»Keine Gespenster«, flüsterte Hannes.
Karla schwieg. Vielleicht hatten die Domschweizer, die Nachtwache schoben, irgendwo drinnen in einer der tausend Ecken des Doms einen Bruder entdeckt, dem es gelungen war, sich einschließen zu lassen. Normalerweise gelang das keinem, denn wenn die Domschweizer ihre Runde machten, passten sie auf wie die Luchse. Aber möglicherweise hatte dieser hier es doch geschafft, unter irgendeinem Heiligenbild seinen Rausch ausgeschlafen und war nun unsanft nach draußen befördert worden. Die beiden Männer hatten sich sehr beeilt und wollten ganz offensichtlich nicht gesehen werden. Warum, wenn sie einfach nur einen stinkenden Penner nach draußen befördert hatten?
Karla sagte schleppend: »Die Toten ... finden im Dom keine Ruhe. Es sind ... böse Männer, die dort begraben sind. Keine Heiligen. Die Erde ... will sie nicht. Darum lässt sie sie nicht schlafen. Die Erde ... ist unruhig, seit ein paar Tagen schon. Merkst du nicht, wie sie zittert?«
»Ach was, Karla, du zitterst, weil's kalt ist und wir nichts zu trinken haben.«
Hannes zitterte auch, und er war nicht sicher, ob das an seinem niedrigen Alkoholpegel lag. Der Körper dort rührte sich nicht. Betrunkene wachen auf, wenn man
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