Weniger sind mehr
wirkungsvoller und durchdringender ist ein Konsens, wenn er sich nicht auf absichtsvoll beschworene gemeinsame Aufgaben und Werte beruft, sondern auf gemeinsame Gefahren und Feinde. Spontan stellen sich Gefühle von Angst und Schrecken ein, und diese binden die unterschiedlichsten Teile moderner Gesellschaften zwangloser zusammen als alle moralischen Aufrufe.
Schon die alte Bundesrepublik definierte sich nicht nur durch ihre ökonomischen Leistungen, sondern auch als Erschreckensgemeinschaft: vor dem Feind aus dem Osten, vor der Atomkraft, Aids, dem Ozonloch und dem Terrorismus. Ein Teil dieser Angstmacher ist vor 15 Jahren hinfällig geworden – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da das neue, größere, wiedervereinigt-zerklüftete Deutschland einen nationalen Grundkonsens stärker brauchte als je zuvor. Die neuen Schreckensgemeinschaftsthemen stellten sich allerdings wie von selbst ein: Globalisierung einschließlich des globalen Terrorismus, Islamismus und eben der Fall der Geburtenrate. Keins der neuen und keins der weiterschwelenden älteren Angstthemen eignet sich so sehr für einen spezifisch deutschen, nationalen Konsens wie der Fall der Geburtenrate: Deutschland überaltert und vergreist, es wird zu einem Land ohne Kinder, es sinkt mit schrumpfender Bevölkerung in die Dekadenz, die Deutschen sterben aus.
|12| Dass die Menschen älter werden, kann man ohnehin weder politisch noch ideologisch stoppen. Es scheint deshalb nur vernünftig, dass Familienministerin von der Leyen bei der Vorstellung des neuen Projekts der »Mehrgenerationenhäuser«, unterstützt mit Bundessubventionen, fordert: »Wir sollten in der Altenpolitik Trendsetter in Europa werden.« Also wieder ein neues Feld für die Politik und wieder ein Blick in die visionäre Schreckenskammer: »Deutschland wird im Jahre 2030 die älteste Bevölkerung der Welt haben«, erklärte die Ministerin bei gleicher Gelegenheit. »Ich möchte eine europäische Allianz für Familien bilden. Die demografische Entwicklung ist, wie sie ist, aber es gibt Stellschrauben, mit denen man den Trend beeinflussen kann.« 1 Eine Möglichkeit zur Justierung sei die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die andere die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund durch frühkindliche Bildung. Die dritte wichtige Stellschraube sei die Frage, wie das Potenzial des Alters einbezogen werden kann. Und zum Schluss: Ein Forschungsverband solle feststellen, was familienpolitisch wirke und was nicht. »Wir haben keine Zeit mehr,
trial and error
zu machen.«
Wo sie Recht hat, hat die Ministerin Recht. Die Politik, durch den Alarmismus der öffentlichen Diskussion zum Aktivismus gezwungen, muss handeln, wie es von ihr erwartet wird. Zeit, die Dinge grundlegend auf ihre Richtigkeit hin durchzudenken, gibt es auch in anderen Politikfeldern nicht. Wie es allerdings möglich sein soll, angesichts dieser – teils unvermeidlichen, teils forcierten – Ignoranz jemals anders zu handeln als durch Versuch und Irrtum, bleibt ein Geheimnis. Dass notwendigerweise via Experimente gehandelt – und vielleicht auch gelernt – wird, bleibt unser einziger Trost. Bevor sie Unheil anrichten können, werden politische Maßnahmen als Irrtum anerkannt.
Ohnehin erscheinen die meisten wirkungslos angesichts der stärkeren Kräfte, die die Gesellschaft bewegen. Auf die Erkenntnis dieser Kräfte – und nicht auf Vorschläge zum politischen Handeln – kommt es mir im Folgenden an. Was bleibt von den |13| alarmistischen Horrorszenarien der Vergreisung, der Kinderlosigkeit und der Schrumpfung der Gesellschaft, wenn sie einer kritischen Prüfung unterzogen werden?
Schreckgespenst Vergreisung – ein deutsches Problem ?
An Bildern der Greisengesellschaft für einschlägige Fernseh-Features herrscht bereits heute kein Mangel: Berliner Hinterhöfe und Gärten ohne Kinderlachen – wie anders war das noch vor 100 Jahren, als es hier, in Zilles Milieu, von Großstadtgören wimmelte? Heute sind die vor Jahrzehnten aufwändig gebauten Spielplätze leer, die Bänke drum herum hingegen voll – besetzt mit vor sich hin dämmernden Greisen. Ganze Straßenzüge und Städte entvölkern sich und veröden: Ostdeutsche Ortschaften müssen dafür als Vor-Bilder herhalten – wobei allerdings verschwiegen wird, dass ihre Probleme aus dem Soggefälle zwischen West und Ost herrühren, also ganz anderen Ursprungs sind.
Tatsächlich gibt es immer mehr ältere Menschen, und es wird auch weiterhin immer mehr geben. Die
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