Weniger sind mehr
sind. Dass Kinder, Familien oder die Gesellschaft insgesamt daran Schaden nehmen, ist nicht zu erkennen. Auch wenn die Familien weniger und nur aus freien Stücken gegründet werden, wenn sie kleiner werden: Emotionale Wärme und gegenseitige Unterstützung, die Werte, die die Familie im Kern ausmachen und die sich auf die Kinder übertragen, werden nicht weniger, sondern mehr.
Dass das Schrumpfen von sozialen Gebilden deren Wert und Problemlösungsfähigkeit nicht herabsetzt, sondern steigert, lässt sich Tag für Tag in der Wirtschaft beobachten. Unternehmen, auch solche, denen es gutgeht, entlassen Beschäftigte. Sie ziehen sich damit unseren Unmut zu. Das aus zwei Gründen. Zum einen sind wir tief von einem biologistischen Vorurteil durchdrungen: Wem es gut geht, der wächst; Schrumpfen ist ein Zeichen von Schwäche und Alter. Aber soziokulturelle Systeme sind keine biologischen Systeme. Zum anderen haben wir durch und durch individualistische, Individuen-bezogene Vorurteile. Wir freuen uns, wenn jemand Arbeit bekommt und leiden mit arbeitslosen Menschen, insbesondere wenn es jemanden in unserem Umkreis trifft.
Unternehmen und Wirtschaft sind für uns keine Wesen, die Freude oder Leid verdienen. Sie sind soziale Systeme oder Institutionen. Aber gerade von ihrer Fähigkeit, in Auseinandersetzung mit anderen soziale Probleme zu lösen, hängen Wohl und Wehe von Individuen ebenso wie von Gesellschaften ab. Der Leitwert der Wirtschaft ist die Wirtschaftlichkeit: ein immer günstigeres Verhältnis |23| von Aufwand und Ertrag. Deshalb entlassen Unternehmen Menschen, wenn sie dadurch wirtschaftlicher arbeiten können; das Absenken der Kosten, gerade auch der Arbeitskosten, gehört sozusagen zu ihrem Lebenselixier. Und sie stellen Menschen ein, wenn die wirtschaftlichen Umstände, besonders expandierende Märkte, es erlauben. Schrumpfen und Sichausdehnen gehört also zum wirtschaftlichen wie Einatmen und Ausatmen zum biologischen Überleben.
Die Gesellschaft und ihre Subsysteme
Mit diesen Vorüberlegungen nähern wir uns erneut der Schreckenskammer der
schrumpfenden Gesellschaft
. Die ersten beiden Fragen, die sich stellen, sind statistischer Art: Schrumpft die deutsche Gesellschaft wirklich? Und ist der Fall der Geburtenrate dafür verantwortlich? In Wirklichkeit ist von einem Schrumpfen, außer in einigen Regionen, nichts zu erkennen. In Deutschland leben mit satten 82 Millionen heute so viele Menschen wie nie zuvor. Und das, obwohl seit gut 30 Jahren die Geburtenrate unter die Sterberate sank – womit das gegenwärtige Klagelied über schrumpfende Bevölkerung seinen Anfang nahm. In Wirklichkeit wurde es nur neu angestimmt. Denn vor genau 100 Jahren, in Auseinandersetzung mit dem Erzfeind Frankreich und in Vorbereitung auf den Ersten Weltkrieg, wurde es schon einmal gesungen. Im Kapitel 7 »Steuerung durch die Politik« werden wir dies eingehender betrachten.
Ob eine Gesellschaft schrumpft oder sich ausdehnt, hängt eben verständlicherweise nicht nur von Geburten- und Todesraten ab, sondern auch von anderen Einflüssen, in erster Linie von Migrationen. Und was die reinen Zahlen angeht: Wir haben bereits bei den ominösen 40 Prozent kinderlosen Akademikerinnen gesehen, dass die Zahl um mindestens 15 Prozentpunkte verschoben lag. Auch bei den Gesamtfertilitätsraten können sich solche Fehler |24| einschleichen, die für politische Zwecke gern weitergegeben und ausgeschlachtet werden. Der österreichische Demograf Thomas Sobotka hat dargelegt, dass in Deutschland genau wie in anderen europäischen Staaten – etwa Italien und Spanien, deren Fertilitätsraten nach der amtlichen Statistik plötzlich stark absanken – die wirklichen Fertilitätsraten nie unter 1,5 gefallen sind. 5 Plötzliche Schrumpfungszahlen wie 1,2 oder 1,3 erklärten sich unter anderem dadurch, dass Frauen in einem Modernisierungsschub ihre Kinder später, aber nicht dadurch, dass sie gar keine mehr bekommen.
Aber auf Zahlen kommt es gar nicht an. Sondern darauf, wie Gesellschaften mit ihnen umgehen. Von schrumpfenden Geburten- und Bevölkerungszahlen können sie, wenn es nötig sein sollte, wieder umschwenken auf steigende. Soziokulturelle Mechanismen dazu gibt es in Fülle. Im Folgenden will ich allerdings nur auf zwei dieser Mechanismen eingehen. Und auch diese kann ich nicht in allen Gesellschaftslagen beschreiben. Darstellen will ich sie nur an dem Problem, das heute die Gemüter so sehr bewegt: der Fall der Geburtenrate und die
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