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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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Destabilisierung anzuzeigen, gehört dieser Trend selbst zu den Mechanismen kollektiver Stabilisierung.
    Auch Tiergesellschaften passen ihre Population an, wenn sie zu groß zu werden drohen. Zusätzlich zu den biologischen Mechanismen verfügen Menschengesellschaften allerdings über soziokulturelle Anpassungsverfahren. Das vergrößert einerseits ihre Möglichkeiten, aber verringert sie in anderer Hinsicht auch. |16| Ethische Gründe verbieten uns, Bevölkerungen durch Kriege, durch Seuchen, durch moderne Mittel der Massenvernichtung zu dezimieren (dass dies dennoch geschieht, ruft Empörung hervor). Sie verbieten uns auch, das individuelle Leben an einem Ende abzukürzen. Also verringern wir es »vorn«: Wir setzen weniger Kinder in die Welt. Der kollektive, systemstabilisierende Sinn dieses Vorgangs scheint uns übrigens genauso wenig bewusst zu sein wie Tieren ihre Populationsregulierung bewusst ist.
    Nur die Demografen, die die Alarmglocken läuten, glauben, »das richtige Bewusstsein« zu haben. Zwar werden sie den Segen des Geburtenrückgangs nicht leugnen. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt! Und dafür haben sie eine Art Richt- und Wertmarke eingeführt: 2,1 Kinder im Durchschnitt pro Frau. Nicht weniger! Woher rührt die magische Leuchtkraft der 2,1? Bei dieser Fertilitätsrate soll eine bestimmte Bevölkerung sich punktgenau reproduzieren, nicht schrumpfen und nicht wachsen. Die 2,1 ist eine Stabilitätsmarke. Sie erhebt demografische Stabilität zur Norm.
    Überzeugend ist dies nicht. Steigende und sinkende Sterblichkeitsziffern, Migrationen, gute und schlechte Zeiten können dafür sorgen, dass die Bevölkerung wächst oder schrumpft, auch wenn die scheinbar ideale Norm von 2,1 eingehalten wird. Diese Stabilität hat es in der Realität der modernen Welt allerdings noch nie gegeben – weder als Faktum noch als Norm. (Die USA kommen ihr übrigens im Augenblick am nächsten.) Auch früheren Zeiten unterstellen wir sie wohl eher zu Unrecht. Zwar ist angesichts aller Unwägbarkeiten der Wunsch nach mehr Stabilität als menschlich zu verstehen. Gesellschaftliche Entwicklung hat aber eine solche Stabilitätsnorm nicht eingeplant. Um Wunschbilder von Statistikern und Demografen kümmert sie sich genauso wenig wie um die öffentliche Meinung.
    Längst ist die Fertilitätsrate unter die magische Idealnorm gesunken. In skandinavischen Ländern schwankt sie um 1,7, in Deutschland tendiert sie gegen 1,4, in Japan und Südkorea |17| neuerdings gegen 1,0. Bezeichnenderweise handelt es sich um die industriell dynamischsten Gesellschaften. Ob die Politik dem Fall der Fertilitätsrate wie in China nachhelfen oder ihn wie in Europa aufhalten will, der Rückgang geht weiter. Die ganze Welt ist von ihm ergriffen.
Alle
Gesellschaften bewegen sich im freien Fall der Geburtenrate, die postindustriellen mittlerweile am wenigsten, die noch nicht industrialisierten stärker, am stärksten die industriellen Wildkatzen wie Südkorea und China. Dabei scheint China die einzige Gesellschaft zu sein, die den freien Fall politisch rigoros angestoßen hat.
    In seiner ganzen Vieldeutigkeit erhellt das Bild des freien Falls Besonderheiten des Geburtenrückgangs: Er scheint unausweichlich. Er geht, historisch betrachtet, schnell. Niemand weiß, wo er aufhört. Niemand weiß, was dann geschieht: Wird es eine Gegenbewegung nach oben geben? Er ist verbunden mit der Freiheit selbstbestimmender Individuen. Deren individuelle Entscheidungen ergeben als kollektives Ergebnis den Fall der Geburtenrate. Er ist ein Element in einem freien System sozialer Selbststeuerung – frei gegenüber den Intentionen von Individuen; relativ frei beziehungsweise eigenmächtig aber auch gegenüber den Interessen und Moralvorstellungen der Teilsysteme Religion, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, insbesondere aber auch gegensteuernder Politik.
    Wen kann man für den rasanten freien Fall verantwortlich machen? Diejenigen, besonders die Frauen, die keine Kinder haben, stehen am Pranger. Das ist besonders töricht. Die Geburtenrate ist keine individuelle, sondern eine kollektive, eine gesellschaftliche Größe. Sie ist ein Glied in einer großen Zusammenhangskette. Man kann sie nicht durch individuelle Schuld, sondern nur gesellschaftlich, durch Zusammenhänge erklären. Und so erst wird das Bild vollständig: Wenn die Gesellschaft keine Kinder hervorbringt, dann hat das einen gesellschaftlichen Sinn. Die Gesellschaft braucht die Kinder nicht, die nicht geboren

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