Weniger sind mehr
werden. Sie fragt sie nicht nach. Sie übt über ihre verschiedenen Teilsysteme, |18| letztlich über uns alle, sogar Druck aus, damit sie nicht geboren werden. Deshalb werden diese Kinder nicht geboren.
Damit ist, nach der Greisengesellschaft, die nächste Schreckenskammer geöffnet: die
kinderlose Gesellschaft
. Passenderweise erschien Ende 2006 der erste Science-Fiction-Film, der, bezogen auf das Jahr 2029, eine Welt ohne Kinder vorstellt. 2 Was Science-Fiction ist, wird Fiktion bleiben. Eine Gesellschaft ohne Kinder wird es nicht geben. Gesellschaften werden nicht kinderlos, schlimmstenfalls werden sie weniger Kinder haben, als wir es gewöhnt sind. Es sind unsere Gewohnheiten, die uns die Verhältnisse als normal und richtig erscheinen lassen – und es sind Veränderungen, die uns Angst vor künftiger Anormalität einflößen. Im Sommer 2006 habe ich im Süden Tunesiens einen Freund besucht. Er zeigte mir das elterliche Gehöft, auf dem er mit zwölf Geschwistern und Halbgeschwistern aufgewachsen war. Vom Mittelalter ins Raumzeitalter sei er katapultiert worden, erklärte er. Er ist Vater zweier Töchter, die wie er studiert und beruflich Karriere gemacht haben. Jede von ihnen hat zwei Kinder. »Du kannst froh und stolz sein«, sagte ich. »Ich bin frustriert«, antwortete er. Er habe zwar nicht zwölf, aber doch fünf bis sechs Kinder haben wollen. Seine Frau, für Tunesien nicht ungewöhnlich, ebenfalls erfolgreich im Beruf, hat dies nicht gewollt und sich offenbar durchgesetzt.
Dieselbe Gewohnheit, die uns in Europa annehmen lässt, dass die ideale Familiengröße mit zwei Kindern erreicht sei, und die in wissenschaftlicher Verbrämung auch als ideal für die Stabilitätslage der Gesamtbevölkerung angesehen wird, bedeutet für den tunesischen Mann, auch wenn er in Europa studiert hat, bereits ein Herausfallen aus dem Ideal und der Normalität.
Wer aber sagt uns, dass die hierzulande angenommene Normalität der Zwei-Kinder-Familie sozusagen der Höhepunkt der Evolution sei, weil sie die begehrte Stabilität fürs Ganze gewährleiste? Es sind die Demografen. Doch ihr Stabilitätsbegriff ist auf naive Weise unreflektiert und verengt. Denn es gibt so viele Stabilitäten, |19| wie es Ziele, Werte oder andere Größen gibt, die überdauern können. Und die Stabilität der Bevölkerung sagt nichts über die Stabilität der Gesellschaft aus. Erst recht sagt sie nichts über die Güte dieser Stabilität. Gegenüber der Vorstellung, die Stabilität einer Gesellschaft ließe sich an der gleichbleibenden Bevölkerungszahl messen, muss in aller Schlichtheit betont werden: Stabil bedeutet nicht, dass die gleiche oder wachsende Zahl von Menschen aufgewiesen wird, sondern dass sich immer neu stellende Probleme so gelöst werden, dass die Gesellschaft im Zeitablauf überdauert. Ist dies bei einer Kinderzahl von durchschnittlich einem Kind pro Paar denkbar? Ich möchte dies im Folgenden zeigen. Aber auch unsere angstvolle Projektion, dass die Zukunft wenn nicht der kinderlosen, so doch der Ein-Kind-Familie gehöre, muss kritisch geprüft werden. Schon auf den ersten Blick zeigen die Statistiken: Die Zahl der Familien mit zwei Kindern nimmt kaum ab. Eltern, die ein Kind bekommen, möchten ihm auch ein Brüderchen oder Schwesterchen beigeben. Auch in Zukunft werden wohl die meisten Kinder in »Normalfamilien« aufwachsen, selbst wenn Scheidungen zunehmen.
Was zurückgeht, sind Familien mit drei und mehr Kindern. Was mehr wird, sind Menschen, die überhaupt keine Familie gründen und keine Kinder bekommen. Diesen Kinderlosen gilt zurzeit die gesammelte Aufmerksamkeit, die verachtungsvollste Bitterkeit, aber auch die liebevoll-mitleidige Zuwendung der öffentlichen Debatte. Auch diese Debatte kreist um eine magische Zahl: 40 Prozent. 40 Prozent der Akademikerinnen, so heißt es, bleiben kinderlos, und diese Zahl werde noch steigen, da ja der Anteil der akademisch Gebildeten an allen Frauen steige.
Hier tut sich eine besondere Kemenate des Kummers und des Leidens in der größeren Schreckenskammer Kinderlosigkeit auf. Den Frauen muss geholfen werden! Dem Verlust besonders kostbaren reproduktiven Kapitals für die ganze Gesellschaft muss gewehrt werden! Der Satiriker Harald Schmidt, das Ohr am Puls der Zeit, hat deshalb 2005 allen Akademikerinnen, die vor dem |20| 31. Dezember schwanger wurden, zwei Weltmeisterschaftstickets gratis versprochen. Als Zugabe erhielt jede werdende Akademikerinnenmutter eine Babytragetasche mit
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