Tiefes Land
06:10 Uhr, 4. Mai, südliches Industriegebiet, Amsterdam
Regentropfen trommelten unentwegt auf das Autodach und ebenso auf den geöffneten Schirm. Fluchend knallte Dr. Tomer die Fahrertür zu. Das Warnlicht der silbergrauen Limousine malte grell orange leuchtende Schatten auf den nassen Asphalt und den Lack des Wagens. Ausgerechnet an diesem wichtigen Tag hatte der Motor plötzlich und ohne einen ersichtlichen Grund gestreikt. Nicht einmal zwei Kilometer vor dem Labor der Tifor Pharmaceuticals. An einen Fußmarsch bei diesem Wetter war natürlich nicht zu denken. Längst bevor er die Strecke zurückgelegt hätte, würden seine Hosenbeine triefend und klamm an der Haut kleben und die neuen Lederschuhe hoffnungslos ruiniert sein. Und eine Werkstatt zu informieren das konnte er sich wohl ebenfalls schenken. Bis sich um diese Stunde eine fand, die sowohl geöffnet, als auch noch einen Abschleppwagen besaß, wäre wertvolle Zeit vertrödelt. Zeit, die ihm jetzt einfach nicht zur Verfügung stand.
Ungehalten versetzte Dr. Tomer dem Vorderreifen einen Tritt, bevor er sich schließlich abwandte und die wenigen Meter bis zu dem Taxi zurücklegte, das am Straßenrand auf ihn wartete. Das eisblaue Nummernschild glänzte fahl im aufkommenden Dämmerlicht. Fahrten mit einem Taxi waren ein Luxus, den sich selbst besser Verdienende als er in Amsterdam nicht gerne gönnten. Aber das hier war eine unvermeidliche Ausnahme.
Gegen neun Uhr trafen einige hochrangige Vertreter der Geschäftsetage im Labor ein, die sich die Präsentation des neuen Präparats anschauen wollten. Die Präsentation, die er in stundenlanger Fleißarbeit sorgfältig vorbereitet hatte und die so verdammt wichtig für den Fortlauf seiner beruflichen Karriere war.
Allein aus diesem Grund war er überhaupt an diesem Morgen so früh unterwegs. Die Uhrzeit verschaffte ihm die nötige Ruhe, die er brauchte, um die Unterlagen noch ein letztes Mal durchzusehen, bevor der ganze Rummel begann.
Nur um absolut sicherzugehen, dass später alles glatt lief. Von seinen Kollegen würde sich niemand blicken lassen, ehe nicht wenigstens Frühstückszeit war.
Dr. Tomer schaute auf seine Armbanduhr, während er auf der Rückbank des Taxis Platz nahm. Sechs Uhr dreizehn. Ihm blieben noch zweieinhalb Stunden, bis die Delegation eintreffen würde. Nicht unbedingt genug Zeit, aber es musste ausreichen. Solange es keine weiteren Verzögerungen mehr gab. Er nannte dem Fahrer sein Ziel. Das Taxi fuhr an und bremste plötzlich unerwartet heftig. Dr. Tomer, der soeben im Begriff war sich anzuschnallen, reagierte viel zu spät. Schmerzhaft drückte sich der Gurt an seinen Hals und hinterließ einen brennenden Striemen. Mit der Hand betastete er die Verletzung, der sich knapp fünf Zentimeter lang in die empfindliche Haut gegraben hatte. Kein Blut. Wenigstens versaute er sein Hemd nicht. Immerhin etwas.
Der Fahrer wandte sich mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck zu Dr. Tomer um. »Tut mir leid, Mijnher.« Er deutete mit dem Daumen auf einen weißen Van, der sie gerade mit hoher Geschwindigkeit überholt hatte. »Hätte ich nicht gebremst, wäre ich dem Spinner hinten rein gefahren. Rücksichtsloses Arschloch. Also nicht Sie, Mijnher, ich meinte ...«
Dr. Tomer winkte ab. »Ja, ja, geschenkt. Es ist ja nichts Schlimmes passiert. Könnten wir dann endlich weiterfahren? Ich habe es wirklich eilig, wenn Sie verstehen.«
»Natürlich. Ich bringe Sie so schnell wie möglich hin.«
»Vielen Dank.« Dr. Tomer angelte im Fußraum nach seiner braunen Lederaktentasche, die beim abrupten Halt von der Rückbank gerutscht war. Mit einem prüfenden Blick zog er eine umfangreiche Mappe heraus. Alles noch an Ort und Stelle stellte, er beruhigt fest.
Dann überflog er hastig seine Unterlagen, auch wenn ihm das Geruckel des Taxis merklich auf den Magen schlug. Die Übelkeit rührte wahrscheinlich eher von der Tasse zu heißen, schwarzen Kaffees her, die er in aller Eile nach dem Aufstehen heruntergestürzt hatte.
Vor dem Gebäude des Pharmaunternehmens angekommen, bemerkte er aus dem Augenwinkel heraus einen weißen Schimmer, der seine Aufmerksamkeit erregte. Er blickte zur Seite und entdeckte den Van, der das Taxi zu Beginn der Fahrt so rücksichtslos überholt hatte. Das Fahrzeug parkte einige hundert Meter entfernt unter ein paar eng zusammenstehenden Bäumen, aber immer noch in Sichtweite am Straßenrand.
Dr. Tomer war sich fast sicher, eine Bewegung hinter den dunkel getönten Scheiben
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