Wenn der Golem erwacht
sich krampfhaft um ein Lächeln bemühte.
»Ist nicht so schlimm«, keuchte sie.
Zum Glück hatte sie Recht. Die Kugel hatte ihre Stirn nur leicht gestreift und eine blutige Schramme hinterlassen.
»Bleib liegen!«, sagte ich zu ihr und sah mich nach meinem Bruder um.
Das einfallende Nachtlicht entriss der Dunkelheit die Umrisse der alten Kulissen: Häuser und Bäume, Autos und Pferdewagen. Und ein auf Sperrholz gemaltes Stadttor, hinter dem eine hell fluoreszierende Gestalt kauerte.
Rica und Bartsch sahen fragend durch die Tür. Ich gab ihnen ein Zeichen, mich gewähren zu lassen, und nahm Rica die Automatik aus der Hand.
Auf Umwegen näherte ich mich Einars Versteck, und Erinnerungen an die Kindheit wurden wach, an Räuber-und-Gendarm-Spiele. Ich umrundete mehrere Kulissen, um von hinten an meinen Bruder heranzukommen. Er kauerte noch immer unbeweglich hinter dem Stadttor.
Leise setzte ich einen Fuß vor den anderen und kam auf etwa zehn Meter an Einar heran. Plötzlich bewegte er sich. Ich sah einen grellen Blitz aufleuchten und fühlte einen gewaltigen Schmerz in meiner rechten Schulter. Der Aufprall der Kugel riss mich zu Boden, und die Pistole schlitterte irgendwo zwischen die Kulissen.
Einar stand über mir und zielte auf mich. »Du gehst mir auch immer wieder auf den Leim, Arved. Schon als Kind ist es dir nie gelungen, mich zu überraschen. Und es wird dir auch nicht mehr gelingen!«
Irgendetwas in seinen Augen verriet mir, dass er abdrücken wollte. Eine Gestalt warf sich zwischen uns, und der Schuss krachte. Die Gestalt, eine Frau, fiel neben mir zu Boden. Noch ein Schuss, und Einar stolperte rückwärts, verhakte sich an einem Sperrholzbaum und stürzte mitsamt dem Kulissenteil hin.
Neben mir lag Max mit zerschossenem Kopf. Ich musste würgen, um die in mir aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Gleichzeitig überkam mich eine unbändige Wut auf Einar und ich sah mich nach ihm um.
Rica lief herbei, eine Automatik, die sie wohl einem der Gorillas abgenommen hatte, in der Rechten, und keuchte: »Ich glaube, ich habe Kranz erwischt!«
»Ja, und er hat Max erwischt«, sagte ich lahm.
Rica sah mich ängstlich an. »Und du?«
»Nur die Schulter.«
Ich stand mit ihrer Hilfe auf und ging zu Einar, der in gekrümmter Haltung über dem umgerissenen Sperrholzbaum lag. Während Rica zur Sicherheit ihre Waffe auf ihn richtete, drehte ich ihn mit der linken Hand herum. Rica hatte ihn in die Brust getroffen, aber er atmete noch schwach.
»Jetzt heißt es Abschied nehmen … Bastard …« kam es in leisen, abgehackten Wortfetzen über seine Lippen.
»Wieso Bastard?«, fragte ich verwirrt.
»Nach meiner Geburt … Mutter unfruchtbar …«
»Unfruchtbar? Aber ich …«
»Dich hat Vater irgendwann mitgebracht.« Einar hustete und spuckte Blut, fing sich aber wieder. »Dich Bastard haben sie mehr geliebt als mich. Vater … wohl immer mir die Schuld gegeben wegen Mutter …«
»Was heißt ›mitgebracht‹? Woher stamme ich?«
»Ich weiß es«, sagte Einar und bäumte sich zu mir hoch. »Aber du … es nie erfahren …«
Er kippte zur Seite und war tot.
Ich empfand Bestürzung und auch so etwas wie Trauer. Einar hatte mir nach dem Leben getrachtet, hatte etliche Morde auf dem Gewissen oder war zumindest in sie verwickelt, und trotzdem war er mein Bruder gewesen.
Wirklich? Was war mit seiner Bemerkung, ich sei ein Bastard? War es nur eine Lüge, mit der er sich einen letzten Triumph verschaffen wollte? Wenn es aber die Wahrheit war, waren wir keine leiblichen Geschwister.
Und doch war Einar mein großer Bruder, mit dem ich meine Kindheit, mein halbes Leben verbracht hatte. Und ich wünschte, er wäre auf andere Weise besiegt worden als durch den Tod.
24
M artin Knaup, die rechte Hand des bei der nächtlichen Schießerei ums Leben gekommenen SGB-Leiters Dr. Einar Kranz, hat ein umfassendes Geständnis abgelegt. Erschreckend ist das Ausmaß, in dem Angehörige dieser Spezialeinheit in die Verbrechen verwickelt sind. Ungefähr der halbe Mannschaftsbestand der Sicherungsgruppe Berlin wurde festgenommen und in Untersuchungshaft verbracht. Eine weitere Verhaftungswelle rollt über die deutschen Tochterunternehmen von Global Standards, in deren Auftrag Kranz gehandelt hat. Wir werden Sie in unseren Nachrichtensendungen auf dem Laufenden halten. Zum Fußball. Das Freundschaftsspiel zwischen der deutschen Nationalelf und …«
Ich schaltete den Fernseher in dem Augenblick ab, als Rica mein
Weitere Kostenlose Bücher