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Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Titel: Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Beer
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auf.
    »Versuch ein bisschen zu schlafen«, sagte er und strich ihr verschwitzte Haarsträhnen aus der Stirn.
    Unter den Decken erschauerte seine Mutter und kauerte sich enger zusammen. »Aber es ist so kalt«, murmelte sie und sah ihn flehend an. »Es will einfach nicht warm werden.«
    Jari seufzte leise. Dann ließ er sich langsam wieder auf die Sofakante sinken. Behutsam half er seiner Mutter, sich noch ein Stück aufzusetzen, und nahm sie in den Arm. »Es ist alles gut, Mama. Ich bin ja da.«
    Ein zittriger Ton, wie ein Wimmern, war die Antwort, und Jari spürte, wie die Hände seiner Mutter sich hinter seinem Rücken ineinander verhakten, als klammere sie sich in einem stürmischen Meer an eine Boje. Er unterdrückte ein erneutes Seufzen. Wann war diese früher so starke Frau eigentlich so wenig geworden, dass kaum noch ein Schatten ihres früheren Selbst übrig blieb? Jari wusste es ebenso wenig, wie er hätte sagen können, warum sich sein Vater so verändert hatte. Und er fand auch diesmal keine Antwort, während er zuließ, dass seine Mutter sich wie eine Ertrinkende an ihm festhielt, bis das Beben ihrer Schultern endlich nachließ. Bis ihre kühle, dünne Haut allmählich wieder warm wurde und sie, den Kopf an seine Schulter gelehnt, die Ruhe fand, die sie so dringend brauchte.
    Etwas später zog Jari aufatmend die Tür der winzigen Kammer am Ende des Flurs hinter sich zu– der einzige Teil der Wohnung, der ganz ihm gehörte. Er drehte den Schlüssel zweimal im Schloss, ehe er sich, die dampfende Bohnenschüssel in den Händen, im Schneidersitz auf sein Bett hockte. Noch so etwas, das immer wieder für Streit sorgte: Wenn Jari sich einsperrte. Aber er tat das nun schon so lange, dass sein Vater es aufgegeben hatte, darüber zu fluchen. Meistens jedenfalls. Wenn er diesen Schlüssel allerdings jemals in die Finger bekommen sollte, das wusste Jari, würde er ihn auf der Stelle im Klo herunterspülen.
    Während er ohne viel Begeisterung das fade Essen in sich hineinlöffelte, beobachtete Jari die schwarzen Wolkenfetzen, die draußen vor einer zweiten Schicht aus Wolken in hellerem Grau vorbeitrieben. Seine Mutter schlief jetzt– und es war, als ob die Wohnung mit ihr schliefe. Jari stellte die leere Schüssel zur Seite, ließ sich rückwärts in die Kissen fallen und schloss die Augen. Ohne dass er es wollte, kam ihm Nele wieder in den Sinn, und ihr Angebot, sie zu begleiten. War er zu schroff zu ihr gewesen? Vielleicht. Sie hatte das ja nur so dahingesagt, ohne zu ahnen, was für ein Kopfkino sie damit in ihm auslösen würde. Aber es war so einfach, so verlockend, es sich vorzustellen. Wie es wäre, nach der Schule mit zu ihr zu gehen und mit ihrer Familie zu Abend zu essen. Zu sehen, ob ihre Eltern genauso bunt und verrückt waren wie sie, und für ein paar Stunden Teil davon zu sein– als könnte er in eine dieser bonbonfarbenen Fernsehserien springen, wo immer alles gut war und selbst die Dramen nach Plan verliefen, um sich mit der Gewissheit eines Uhrwerks jedes Mal sauber in einem Happy End aufzulösen.
    Tatsächlich wäre es nicht das erste Mal gewesen, dass Jari so eine Reise unternahm. Um genau zu sein, geschah es sogar ziemlich oft, dass er sich in sich selbst hineinflüchtete, wann immer sein eigener schmutziger, trostloser Alltag zu unerträglich für ihn wurde. Es war seine besondere Fähigkeit, von der er noch niemals jemandem erzählt, sondern sie nur über Jahre hinweg in der Stille seines kleinen Zimmers perfektioniert hatte: die Fähigkeit, in seinem Inneren einen Raum zu schaffen, in den ihm niemand folgen konnte. Einen Raum ganz aus Leere und Stille, in dem er sich selbst und seine Umwelt neu gestaltete, wie es ihm gefiel. Dort gab es helle, freundliche Räume und liebevolle Eltern, die sich nicht ständig mit wüsten Beschimpfungen bewarfen– im besten Fall. Oder er erschuf weite, stille Landschaften, durch die er wandern konnte. Ganz allein, ohne Mitschüler, die ihm dumm kommen konnten, weil seine Klamotten so zerschlissen waren, oder Nachbarn, die ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Mitleid betrachteten. Wenn er sein Leben nicht mehr ertrug, nahm er sein verbittertes, vor Wut kochendes Ich und setzte es in eine Andere Welt, schickte es auf eine Reise, von der es nie wiederkommen sollte. Je unrealistischer die Szenarien, desto besser.
    Heute allerdings war es anders. Neles Angebot gab dem Ganzen etwas geradezu beängstigend Greifbares. Noch nie hatte Jari seine Zufluchtsorte

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