Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Revier«, sagte er sanft, »ist ein Traum jenseits von denen der Menschen. Es liegt dort oben.« Er deutete zum Himmel. »Ich nehme dich mit, wenn du willst.«
Die beiden Grübchen über ihren Augenbrauen waren wieder da. »Du hast mich gestern gar nicht nach meinem Namen gefragt«, sagte sie statt einer Antwort. Es klang wie ein Vorwurf. Als sei das allein die Lösung ihres Problems.
Seth lachte leise und beugte sich vor, um ihr direkt in die Augen zu sehen. »Aber ich weiß deinen Namen doch schon.« Er blinzelte und legte seinen Zeigefinger federleicht auf ihre Nasenwurzel. »Er steht genau hier auf deiner Stirn.«
Er mochte diesen verwirrten Ausdruck auf ihrem Gesicht. Dies war wirklich ein schönes Spiel. Sein Traum in ihrem. So wie sie in der letzten Nacht ihren in seinen gebracht hatte und doch ganz anders.
»Nele. Soll ich dich so nennen?«, flüsterte er.
Nele nickte. »Ja, das wäre nett.« Ihre Stimme bebte nun ein ganz kleines bisschen.
Seth richtete sich langsam wieder auf und hielt das Gesicht in den Wind, der vom Meer kam. Ein Wind, der sich so echt anfühlte, als stünden sie wirklich am Ufer der See. Diese Nele hatte eine unglaubliche Fantasie.
Und in diesem Augenblick kam Seth ein Gedanke. Ein kühner, geradezu aufrührerischer Geistesblitz. Was, wenn er sie nun nicht nur mit in sein Revier, zurück in seinen Traum nahm? Wenn er sie stattdessen durch das Nachtglas führte, in die Unendlichkeit, in der nur die Träume lebten? Was sie alles erschaffen könnte, dachte Seth und lächelte versonnen. Was sie bewirken könnte … Die Vorstellung weckte ein wohliges Kitzeln in seinem Brustkorb. Welche Kunstwerke, welche bizarren und wunderbaren Welten würde Nele gestalten, wenn sie erst unbegrenzten Zugriff auf die Kraft der Träume hätte! Sie würde eine Göttin sein … zumindest so lange, bis sie selbst zu einem Traum wurde. Ein unausweichliches Schicksal, nach allem, was Seth wusste. Aber selbst das würde ihrem Zauber wohl kaum Abbruch tun.
Sein Lächeln vertiefte sich. Oh ja. Ein fantastischer Gedanke, viel zu verlockend, um ihm nicht nachzugeben. Sie würde sein ganz eigener, faszinierender Traum sein. Nele, seine Nele. Der Name passte zu ihr.
»Einverstanden«, sagte er und ließ ein zartes, lockendes Schnurren in seiner Stimme mitschwingen. »Nele also.«
Nele machte einen weiteren Schritt auf ihn zu und musterte ihn mit prüfendem Blick. »Und du?«, fragte sie. »Wieso bist du so anders? Du gehörst nicht in meinen Kopf, stimmt’s? Wer oder was bist du – wenn du doch kein Mensch bist, wie du sagst?«
Seth hob amüsiert die Brauen. »Das darf ich dir natürlich nicht verraten.«
Nele runzelte die Stirn. »Also mal ehrlich. Du siehst nicht aus wie ein Typ, den es interessiert, was er darf oder nicht darf.«
Ein Lachen gluckste in Seths Kehle, und er hatte Mühe, es hinunterzuschlucken, ehe es seine Lippen erreichte. Er streckte die Hand aus, machte einen Schritt an Nele vorbei und zauste ihr im Vorübergehen flüchtig die Haare; spürte, wie sie unter der Berührung erstarrte. Sie hatte so recht. Was er durfte oder nicht, hatte ihn noch nie besonders gekümmert. Wenn sie nur gewusst hätte, wie verboten es war, was er wirklich plante …
Er warf einen Blick über die Schulter zurück und hörte das Lachen nun doch in seiner Stimme vibrieren. »Aber ich liebe Geheimnisse.«
Nele atmete tief durch. Zweimal. Dreimal. Seth konnte die Luft an ihren Lippen zittern sehen.
»Warum?«, fragte sie schließlich leise. Ihre Stimme klang rau. »Warum bist du in meinem Traum? Und wie kannst du mich in andere Träume mitnehmen? Das ist einfach nicht möglich.«
Seth lächelte sanft und wies einladend den Strand entlang. Dort in der Ferne, fast unsichtbar im hellen Licht, stand eine weiße Tür zwischen den Dünen, die ins Nichts zu führen schien. Aber Seth wusste es besser.
»Ich sagte doch, ich zeige es dir. Also, kommst du?«
Nele biss sich auf die Unterlippe, zupfte mit den Zähnen an dem feinen Ring aus Silber neben ihrem rechten Mundwinkel. Sie sah von Seth zu der Tür in der Ferne, dann auf ihr Meer hinaus und wieder zurück zu Seth.
»Na schön«, sagte sie dann und reckte das Kinn. »Ich komme.«
Nur einen Schritt vor der Tür blieben sie stehen. Und obwohl er es vor Ungeduld und Vorfreude kaum noch aushielt, gab Seth Nele so viel Zeit, wie sie brauchte, um einmal um den strahlend weißen Rahmen herumzugehen und den Durchgang ausgiebig zu betrachten. Immerhin musste es für sie
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