Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Mann in Schnürschuhen an ihrem Fenster vorbeigelaufen war. Langsam kam die Erinnerung. Sie war nach New York geflogen und lag im verwinkelten Hamsterbau von Frau Anna.
Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, wusste weder, ob es Abend oder Morgen war, und auch die angezeigte Zeit auf ihrem Handy brachte sie nicht weiter. Waren es sechs oder acht Stunden Zeitunterschied? Und vor allem, musste sie vor oder zurück rechnen? Die Zeitzonen waren noch nie ihre Stärke gewesen. Nichts war ihre Stärke. Erstmals seit ihrer übereilten Abreise gestand sie sich ein, dass sie von Mick nichts als die Adresse auf einer alten Postkarte hatte, keine Telefonnummer, keine Mail, nur eine Ortsangabe, die wie die Zahlenkombination für ein Schließfach anmutete.
Sie stellte sich auf das Bett und versuchte nach draußen zu sehen. Die Matratze war so weich, dass sie einsank und sich, auf Zehenspitzen balancierend, am Fenstersims ein Stück nach oben ziehen musste. Sie sah durch die Gitterstäbe auf schmutzige Gehwegplatten und dachte, so viel Symbolik für ihre Unfähigkeit wäre nun auch nicht nötig gewesen.
Amerika war etwas gewesen, das es nur in Micks Kopf gab. Manchmal gelang es ihr, ihm auf seinen Gedankenreisen zu folgen. Getrieben vom Blues, fuhren sie auf breiten Highways einem unbekannten Ziel entgegen. Die Bilder, die Mick mit seinen Worten malte, kamen ihr vor wie Kreidezeichnungen auf Asphalt. Wunderschön und im nächsten Moment vergänglich.
Nach jener ersten Nacht hatte sie in der Morgendämmerung an dem großen Fenster gestanden. Mick kochte Tee. Sie hörte das Klappern der Tassen, das Summen des Tauchsieders. Sie drehte sich um, sah, wie er eine Tortenform aus dem obersten Fach seines Regals nahm, und spürte, dass sie Hunger hatte. Mick hob ein Bündel aus der Form und legte es auf den Küchentisch. Vorsichtig schlug er die Zipfel zurück. Doch statt des von Roswitha erwarteten Kuchens lag eine kleine Schallplatte auf dem Geschirrtuch.
»Aus Amerika«, sagte Mick und blickte verzückt auf die Platte, als wäre sie das Ellenbogengelenk des heiligen Petrus. Dann nahm er sie zwischen seine Hände und schritt zum Plattenspieler.
»A oder B?«, fragte er
»B!«
»Gute Wahl«, sagte Mick. »Vergiss alles, was du bisher gehört hast!«
»Something told me the game is over …« Die tiefe Stimme von Etta James traf Roswitha wie ein Schlag.
Sie sah hinaus auf den Hinterhof. Im Licht der aufgehenden Sonne begannen die Katzenkopfsteine rosa zu schimmerten. Die Mülltonnen bekamen einen goldenen Rand, und die Katze auf der Waschhaustreppe wurde ein schillerndes Fabelwesen. Es war, als würde Etta James mitten im Hof stehen und ihren Blues vom Verlassenwerden singen.
Der verblassende Mond spiegelte sich im Treppenfenster des Vorderhauses. Und Mick hob seine rechte Hand, zeigte mit dem Zeigefinger in Richtung Himmel und rief, halb Drohung, halb Schwur: »Irgendwann!«
Dann ließ er die Hand sinken und sah Roswitha an. In diesem Moment hätte sie ihm alles versprochen.
Sie zuckte zusammen, als ein Hund mit seinem Fell die Gitterstäbe streifte. War er auf seiner Morgenrunde, oder war es sein letzter Gang durch die Nacht? Sie zog sich noch ein Stück höher, legte den Kopf in den Nacken und erkannte, mit schwindender Kraft, am Himmel einen hellen Fleck. Doch sie konnte nicht unterscheiden, ob es der untergehende Mond, die aufgehende Sonne oder einfach nur das Licht einer Straßenlaterne war.
Drei Jahre nach seiner Flucht hatte Mick ihr die erste Postkarte geschickt, die schwarz-weiße Ansicht eines Hochhauses, über dem der Mond stand. Auf der Rückseite der Karte hatten nur zwei Worte gestanden: Bin da!
2
ER HATTE IMMER NUR KARTEN GESCHICKT . Ein Bild vom Empire State Building mit der Bemerkung: »An dieser Spitze können Luftschiffe anlegen«, eine nächtliche Aufnahme vom Guggenheim-Museum: »Ein Ufo am Central Park.« Ob Brücken, Parks, Häuser oder Plätze – alles wirkte gigantisch. Mick war in seinem Traumland angekommen, während es Roswitha seit vielen Jahren nicht gelungen war, sich eine neue Wohnung zu suchen.
»Wenn ich auf dem Dach stehe, kann ich die Freiheitsstatue sehen«, hatte er ihr auf seiner letzten Karte geschrieben. Und Roswitha war ein wenig neidisch gewesen und hatte ihn sich vorgestellt, wie er in romantischen Sommernächten mit einem Glas Whisky auf dem Flachdach eines Hauses stand, lässig gegen einen Schornstein gelehnt, und über den East River hinweg nach Ellis Island
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