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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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sah.
    Sie verdrängte den Gedanken, dass die Karte mittlerweile drei Jahre alt war. Die Karten waren immer in großen Abständen gekommen. Mick hatte nie gern geschrieben.
    Die Adresse auf der Karte markierte zahlengenau einen Punkt im Koordinatenkreuz der Stadt, doch das Finden war eine andere Sache. Schon allein die Fahrt mit der Subway war eine Herausforderung. Erst einmal musste sie sich dem Mysterium von Uptown und Downtown stellen und wählte, in der festen Überzeugung,der Weg vom Südosten Manhattans nach Brooklyn würde aus der Stadt herausführen, »Uptown«. Sie bemerkte den Fehler, als sie nach einigen Stationen auf der Leuchtschrift im Wagen las, dass sie in einem Zug Richtung Bronx saß. Zwei Stunden lang fuhr sie, losgelöst von dem Leben über ihr, in der Tiefe Zickzack, um am Ende, als wäre nichts geschehen, an der richtigen Stelle aus der Erde zu steigen. Die Subway erschien ihr als eine eigene Welt, und sie war sicher, dass es diese Stadt zweimal gab: einmal unter und einmal über der Erde.
    Die Gegend, in die sie in Brooklyn entlassen wurde, glich beim näheren Betrachten einer deutschen Reihenhaussiedlung. Es waren schmale, aneinandergedrückte Häuser, kaum breiter als die Eingangstreppen. Auf den Fensterbänken standen von Rüschengardinen gerahmte Blumentöpfe. Vor den Haustüren fletschten Kürbisköpfe ihre Zähne und kündeten gemeinsam mit Hexen und Gespenstern vom bevorstehenden Halloween.
    Es fehlte nur noch das Holzschild mit der eingebrannten Aufforderung »Haxen abkratzen!«.
    War Mick dem Muster seiner Kindheit gefolgt?
    Ein einziges Mal, zur Silberhochzeit seiner Eltern, als er einen Besuch nicht vermeiden konnte, hatte er Roswitha »als moralischen Beistand« mit in die Kleinstadt genommen, in der er aufgewachsen war. Hier war aus Michael nicht Mick, sondern »unser Michi« geworden, was auf Sächsisch, nach zwei Bier durch die Zähne gezischt, Unsmschi ergab. Sein Vater, der Spender der »Präsent-20«-Jacken, war ständig auf gute Stimmung bedacht gewesen. Während Micks Mutter, eine Lehrerin, nicht verhehlen konnte, dass sie ihr Erziehungsziel bei ihrem Sohn als verfehlt ansah.
    Roswitha wurde sofort als zukünftige Schwiegertochter vereinnahmt: »Vielleicht wird der Junge ja doch noch vernünftig.« Sie musste bei einer Führung durch das Haus die geschnitzte Eckbank in der Küche, die Fliesenfolie im Bad, die Schrankwand »Kompliment« und natürlich auch das Zimmer von Michi bewundern. Alles war im Originalzustand. An diesem Schreibtisch hat »Unsmschi« seine Hausaufgaben gemacht, in diesem Bettchen hat er geschlafen und auf diesem Stühlchen gesessen. An der Wand zeugten Urkunden vom ersten Leben des Michael Stein. Belobigungen »Für gutes Lernen in der Schule« und Würdigungen seiner sportlichen Erfolge beim Kunstturnen. Auf einer Anrichte standen, ordentlich ausgerichtet, neben einem Kofferplattenspieler seine erste Schallplatten: Grimms Märchen, Pittiplatsch, Chris Doerk und Frank Schöbel, Mireille Matthieu.
    Je weiter sie lief, desto schmuckloser wurden die Häuser, was sie einerseits beruhigte, andererseits aber auch die Wahrscheinlichkeit verringerte, dass jemand aus romantischen Gründen auf eines dieser Dächer stieg. In der Einfahrt einer Autowerkstatt stand ein verrosteter Ford, dem die Vorderräder fehlten, und an dem indischen «Take away« daneben waren die Rollläden heruntergelassen. Die Straße war menschenleer. Über die Häuser hinweg donnerten Autos über einen mehrspurigen Expressway, was das Gefühl der Abgeschiedenheit noch verstärkte. Ihr blieb noch eine Kreuzung, dann war die Straße zu Ende. Es war eine Sackgasse. Im Näherkommen bemerkte sie das drei Meter hohe Eisengitter, das den Weg zum Fluss versperrte. Auch auf der linken Seite gab es einen hohen Zaun, der zusätzlich mit Stacheldraht gesichert war. Dahinter summten Kondensatoren. Schilder mit aufgezeichneten Blitzen warnten vor Stromschlägen, aber siekonnte keine Anbindung an einen außenstehenden Hochspannungsmast erkennen. Ganz abgesehen davon, dass ein Umspannwerk von wenigen Quadratmetern für Stromversorgung einer große Stadt wenig Sinn machte. Aber wer weiß, zu welchem Zweck es gebaut worden war, vielleicht war es die Station, von der E.T. jeden Abend »nach Hause telefoniert« hatte.
    Es blieben noch drei Klinkerbauten auf der rechten Seite zur Auswahl. Zweifelnd blickte sie nach oben zu den baufälligen Schornsteinen und der Dachpappe, die in Fetzen über dem First hing. Auf

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