Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
dem ehemals weißen Firmenschild über der rechten Tür war nur noch »…&Söhne« zu erkennen, während sich die linke Werkstatt durch eine Werbetafel eindeutig als Sargtischlerei auswies. Dazwischen lag Micks Haus.
Es gab keine Klingel, kein Namensschild. Zaghaft klopfte sie gegen die rostige Eisentür und wartete. Auch ein erneutes Klopfen brachte keinen Erfolg. Sie beugte sich nach vorn und versuchte, mit einem Blick durch das Schlüsselloch zu erkennen, ob das Haus überhaupt bewohnt wurde. Es war ein Fehler. Wie bei einer Kneipe öffnete sich die Tür nach außen und schickte Roswitha mit einem kurzen Schlag zurück in Richtung Umspannwerk.
Als sie die Augen öffnete, sah sie nackte Beine, die in Lederstiefeln steckten. Vor ihr stand ein Cowboy im Morgenmantel. Er hatte seinen Hut so tief ins Gesicht gezogen, dass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte.
»Mick?«, fragte sie vorsichtig. Und der Cowboy schüttelte seinen Hut und sagte: »Jorg!«, streckte ihr die Hand entgegen und versuchte sie vorsichtig aufzurichten. Willenlos ließ sie sich ins Haus führen und auf das Sofa legen. Der Cowboy brachte einen Beutel Crush Eis zur Kühlung und drückte ihn ihr aufs Gesicht.
»Eigentlich wollte ich mir damit heute Abend Drinks machen«, sagte er mit Wehmut in der Stimme.
Sie spürte, wie der pochende Schmerz in den Schläfen langsam nachließ und das Gesicht durch die Kälte gefühllos wurde.
Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Ein Cowboy im Morgenmantel, der Deutsch sprach? Lag sie im Koma und das Unterbewusstseins spielte ihr einen Streich?
»Was suchst du hier?«, fragte der Cowboy.
»Warum sprichst du Deutsch?«
»Warum wohl? Weil ich aus Erfurt bin.«
Jetzt war sie sicher. Es war eine Ohnmacht.
»Also! Was oder wen suchst du hier?«
»Mick!«
»Mick? Who?«
»Meinen Freund Mick. Michael Stein.«
»Den Sachsen?« Der Cowboy lachte.
»Du kennst ihn?« Sie kam mit dem Oberkörper nach oben, fiel aber vor Schmerzen sofort wieder zurück auf das Sofa.
»Bleib liegen!«, befahl der Cowboy und ging aus dem Zimmer, wahrscheinlich, um ein Seil zu holen, mit dem er sie an das Sofa fesseln konnte.
Sie spürte, wie er näher kam. Er schob eine Hand unter ihren Kopf, hob ihn etwas an und presste ihr ein Glas an die Lippen. »Trink das!« Es schmeckte salzig.
»Was willst du von Michael?«
Er sprach den Namen Englisch aus, was ein kleiner Trost war.
»Er ist ein alter Freund. Von früher …«, sie suchte nach einer Formulierung, »… als wir jung waren.«
»Wie heißt du?«
»Roswitha!«
»Ach«, sagte der Cowboy, »du bist Rose?« Er sagte es in einem Ton, den sie seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gehört hatte. Sie schloss wieder die Augen.
»Nicht einschlafen!«, rief der Cowboy. »Sprich mit mir!«
Roswitha, die überraschend wieder zu Rose geworden war, lag wie zur Psychoanalyse auf einem fremden Sofa, die Hände auf dem Bauch gefaltet, die Augen wegen des Eisbeutels zwangsweise geschlossen.
»Wo ist Mick?«, fragte Roswitha.
»Im Moment nicht hier.«
»Das sehe ich!«
»Das bezweifle ich bei deinem Auge!«
»Mach dich nur lustig!«
»Weiß er, dass du kommst?«
»Nicht direkt.«
»Das ist ja die beste Voraussetzung, ihn zu treffen.«
Roswitha schwieg.
»Nicht einschlafen! Sprechen!«
»Und worüber?«
»Mir egal. Erzähl mir von Michael. Wie war er früher, als ihr ›jung wart‹?«
»Ungewöhnlich.«
»Das sind wir alle. Geht’s etwas genauer?«
Mick war wie eine goldene Gans: Wer mit ihm in Berührung kam, blieb an ihm kleben. Der rothaarige Junge, der im Hörsaal aufgestanden war und Bravo gerufen hatte, die Frau hinter dem Tresen im Studentenklub. Aber nur Mick allein entschied, wem seine Gunst zuteil wurde. Alle anderen Klebengebliebenen schüttelte er wieder ab und beachtete sie nicht mehr. Wer allerdingseinmal seinen Bannkreis betreten durfte, gehörte dazu. Für immer.
Nach der ersten Begegnung war alles besiegelt. Mick ließ keinen Zweifel daran, dass er »Rose« von nun an als Teil seines Lebens betrachtete, so wie er von ihr erwartete, dass er ab sofort Teil ihres Lebens war. Sie wehrte sich nicht gegen seine Vereinnahmung. Warum auch? Mick gab diesem Studium endlich einen Sinn.
Sie hatte nicht gewusst, was sie wollte, sie hatte nur gewusst, was sie nicht wollte: Sie wollte nicht, wie ihre Mutter, in einem Büro sitzen und warten, dass die Zeit verging. Sie wollte keine Lehrerin werden, keine Staatsanwältin, nicht zum Journalistikstudium ins »Rote
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