Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Kloster« gehen. Für Fremdsprachen fehlte ihr die Begabung, und zum Menschenleben-Retten fühlte sie sich nicht berufen.
Nach den Abiturprüfungen gab es kein Entrinnen mehr. Wer sich der Volkswirtschaft entzog, galt als asozial, und so musste sie sich für eine Studienrichtung entscheiden. Letztendlich hatte die Entfernung zum Studienort den Ausschlag gegeben. Denn das Ende der Schulzeit bot, ganz nebenbei, eine einmalige Gelegenheit: die Entlassung von zu Hause. Weit weg von ihrer putzsüchtigen Mutter, die nach einem langweiligen Büroalltag ihre Befriedigung in einer penibel aufgeräumten Wohnung und glänzenden Fußböden suchte. Wie andere tranken oder süchtig nach Zigaretten waren, wischte sie Staub, bohnerte, bügelte und putzte Fenster. Nichts durfte die von ihr geschaffene Ordnung zerstören. Auch nicht der Vater, dem, als er wegen einer Erkältung einmal früher nach Hause kam und den Wunsch nach einer Stunde Schlaf hatte, mit einer Wolldecke ein Lager auf dem Küchentischbereitet wurde, weil die Betten gerade frisch bezogen waren und das Sofa vom Schaumreiniger noch feucht war. Und auch ein Versicherungsvertreter musste mit hochgezogenen Beinen auf einem Stuhl neben der Tür verharren, bis der gewischte Boden endlich getrocknet war. Frisch gewischt war frisch gewischt.
Und so zog »unsere Rosi« mit einer Reisetasche voller frisch gewaschener Sachen zum Studium in die Fremde.
Es war ein Abschied auf lange Zeit. An den Wochenenden blieb Roswitha lieber im Wohnheim, und nachdem sie Mick kennengelernt hatte, wohnte sie die meiste Zeit mit ihm in der Polstererwohnung.
Nach der letzten Vorlesung am Sonnabend, wenn alle anderen aus dem Hörsaal rannten, um ihren Zug zu bekommen, schlenderten sie entspannt durch die Stadt, stöberten in den Antiquariaten und setzten sich danach mit ihrer Beute in ein Café oder legten sich auf die Wiese im nahe gelegenen Park. Das war Freiheit! Eine Freiheit, die sie nur teilten, mit wem sie es wirklich wollten, zum Beispiel mit Zappa.
Zappa, dem sein Vorname Frank in Micks Namensgebungswahn keinen Spielraum ließ, war der rothaarige Junge, der nach Micks Tierfabelaufführung mutig Bravo gerufen hatte. Er lebte auf einem großen Bauernhof in Nähe der Stadt, in friedlicher Eintracht mit seiner Mutter, was ungewöhnlich war, aber jeder sofort verstand, der die Zappamutter kennenlernte. Spielerisch bewirtschaftete sie den alten Dreiseitenhof. Es gab einen verwunschenen Garten, in dem Blumen und Gemüse um die Wette wuchsen, an jeder Ecke blühte ein Strauch, und Kletterpflanzen bedeckten die Wände. Die Zappamutter war Keramikerin und der erste berufstätige Mensch, den Roswitha kennenlernte,der nicht angestellt war. Die Kunst bescherte der Zappamutter ein freies Leben. Sie konnte am Morgen aufstehen, wann sie wollte, und niemand schrieb ihr vor, was sie zu töpfern hatte. Egal, ob Vasen, Schalen oder Krüge, alles, was sie mit ihren Händen formte, fand reißenden Absatz. Die Zappamutter hatte lange blonde Haare, die, auch das war für Roswitha ungewöhnlich, gefärbt waren. Alle anderen Mütter fügten sich in ihr Altersgrau. Nicht so die Zappamutter. Sie trug weite gebatikte Kleider, Seidenschals und wallende blonde Haare in Ewigkeit. Jeder war in ihrem Haus willkommen, und sie durften bleiben, solange es ihnen gefiel.
Zappa bewohnte eine eigene Etage, und auf dem Dachboden der Scheune gab es unzählige Matratzenlager. Das einzige von der Zappamutter verordnete Tabu war das Betreten des Wohnzimmers, denn dort befand sich der Heilige Schrein, ein zweirädriger schmiedeeiserner Barwagen. Überraschenderweise liebte die Zappamutter Likör und hatte auch noch einen wählerischen Geschmack. Ihr Barwagen sah aus wie ein fahrbares Spirituosenregal aus dem Intershop. Eckes Edelkirsch, Batida de Coco, Cinzano, Cointreau.
Die Zappamutter hatte sich diesen Bestand mühsam mit ihren Töpferwaren ertauscht und wollte ihre Schätze mit niemandem teilen. Selbst wenn der Abbruch einer Feier drohte, weil die alkoholischen Getränke schneller als geplant zur Neige gingen, und alle mit schwerer Zunge um ein einziges Glas bettelten, gelang es nicht einmal Mick, das Herz der Zappamutter zu erweichen und sie zu überreden, wenigsten einen Teil ihrer Bestände für die dürstende Masse zu opfern. Der Barwagen war ihr »Privatleben«, und manchmal hörte man sie hinter der verschlossenen Wohnzimmertür leise singen.
Zappa selbst war ein schüchterner Junge, der als Kind wegen seiner roten
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