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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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Schneider machte sich auf die Suche nach seinem schwarzen Schutzengel, der ihm gesagt hatte: »Wenn du mich brauchst, such mich in Harlem!« Er fand ihn betrunken in einer Kneipe. Und der Schneider revidierte sein Vorurteil und sagte: »Ich glaube, dass Sie ein Engel Gottes sind.« Und schon waren die Rückenschmerzen verschwunden, und die Frau erhob sich von ihrem Sterbebett und putzte die Wohnung.
    Roswitha hätte jeden Schutzengel genommen, der sich ihr anbot. Doch so sehr sie suchte, es gab kein Zeichen.
    Wladimirs Familie und auch Roswithas Eltern waren keine Hilfe. Insgeheim schämten sie sich dafür, dass Wladimir in einer Nervenheilanstalt lag. Sie überhäuften Oskar mit Geschenken, aber fragten nie, ob Roswitha Hilfe brauchen würde. Sie saßen stumm in Roswithas Wohnung herum und warteten darauf, dass Roswitha sie aufmunterte. Zu Wladimir fuhren sie nur sehr selten.
    Es hatte sich herumgesprochen, dass Wladimir schwer krank war, und wenn Zappa an den Wochenenden seine Mutter besuchte, half er Roswitha, Wladimir nach Hause zu holen. Sie redeten wenig, doch Roswitha merkte Zappa die Erschütterung an. Roswitha hatte sich geweigert, den Antrag auf eine Pflegeheimeinweisung für Wladimir zu unterschreiben. Sie wusste, dass es auf Dauer keinen Sinn machte, aber sie hätte es als Resignation empfunden. Mittlerweile bekam Wladimir täglich achtzehn Tabletten, darunter Medikamente, die eine eventuelle Nebenwirkung der anderen Tabletten aufheben sollten. Tabletten gegen Tabletten – es gab keinen Apotheker, den sie fragen konnte. Eine der Nebenwirkungen war, dass Wladimir nachts mehrfach auf dieToilette lief, was für Roswitha bedeutete, dass sie jedes Mal mit aufstehen und nachsehen musste, ob es ihm gutging. Eines Samstagabends schlief sie, während sie Oskar ein Schlaflied vorsang, erschöpft auf dem Fußboden vor dem Kinderbett ein. Sie wurde wach, als es bereits hell war. Wladimir lag noch im Wohnzimmer auf dem Sofa. Sie fragte ihn, ob er nachts aufgestanden sei, und er schüttelte den Kopf. Als sie ihm seine Morgenration Tabletten geben wollte, ahnte sie den Grund; sie hatte es regelrecht verschlafen, Wladimir am Abend zuvor seine Tabletten zu geben. Auch wenn er sich nur schwer artikulieren konnte, hatte Roswitha doch das Gefühl, dass er sie verstand. Er schien gefangen in seinem eigenen Körper. Gemeinsam trafen sie die Entscheidung, dass Wladimir auch am kommenden Tag die Tabletten nicht nehmen würde. Als Erstes besserte sich sein Blick. Die Pupillen verloren ihre Starre, und Wladimirs Blick wurde wieder weich und klar. Sie setzten die Tabletten an den Wochenenden ab, und als sich Wladimirs körperliche Verfassung besserte, gelang es ihm, die Tabletten im Krankenhaus unbemerkt in die Toilette zu spucken.
    Zappa hatte Alarm geschlagen und einen Besuchsplan aufgestellt, sodass Roswitha nur noch jeden zweiten Tag in die Klinik fahren musste. Roswithas Studienfreunde und Wladimirs Kollegen teilten sich die Besuchszeiten auf. Die Zappamutter kochte für Roswitha und betreute Oskar. Die Hochschule war großzügig und erließ Roswitha fast alle Seminararbeiten.
    Für Wladimir hatten Roswitha und Zappa einen harten Stundenplan entwickelt. Jeden Tag ging jemand mit ihm eine Stunde lang spazieren und übte dabei mit ihm das Sprechen. Die zweite Unterrichtsstunde war »Lesen«. Sie begannen mit kurzen Texten aus Bilderbüchern. Das erste richtige Buch, das Wladimir las, waren »Die Abenteuer des Huckleberry Finn«. Gemeinsam fuhrensie mit Huck und Jim auf einem Floß den Mississippi hin unter. Roswithas hatte dieses Buch während ihrer Kindheit geliebt. Als sie es nun noch einmal las, wusste sie sofort wieder, warum. Es war der Drang, weit weg zu gehen: Einfach mit einem Floß in die Freiheit fahren. Manchmal dachte sie beim Lesen an Mick. Es gab das Gerücht, dass er übers Meer in die Türkei geflüchtet war. Fast wie Huckleberry Finn, dachte Roswitha. Als letzte Übung bekam Wladimir eine Hausaufgabe. Er sollte jeden Tag seine Erlebnisse aufschreiben. Wobei sich die Berichte wenig unterschieden, da es bis auf die »Unterrichtsstunden« kaum Abwechslung gab. Von ärztlicher Seite fand während der Zeit auf der geschlossenen Station keine Therapie statt.
    Als sie »Huckleberry Finn« zu Ende gelesen und Jim aus der Sklaverei befreit hatten, fand Roswitha, dass der richtige Moment gekommen war, auch Wladimir zu befreien. Sie ging zur Ärztin und forderte eine Verlegung Wladimirs auf eine »normale Station« mit

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