Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Dampfer »Manhattan« weiß färbten. Auf der Straße vor dem Museum winkten zwei Männer hektisch nach einem Taxi. Roswitha blickte im Treppenschacht nach unten und sah, dass das Foyer fast leer war. Alle flohen nach Hause.
Sie ging zurück an die Reling und sah zu, wie der Wind die Flocken gegen die Scheibe trieb. Für einen Moment trotzten sie der Schwerkraft und blieben kleben. Eine Daunendecke legte sich über die Glasfront des Museums. Roswitha stellte sich vor, dass der Schnee auf der Straße meterhoch lag und sie hier mit all dieser Schönheit und all dieser Angst eingeschneit würde. Als Kind hatte sie sich immer gewünscht, in der Spielzeugabteilung des Kaufhauses eingeschlossen zu werden.
Dann aber rutschten die Schneeflocken doch an den Scheiben nach unten, und sie konnte wieder nach draußen sehen. Doch kurz darauf legte sich lautlos neuer Schnee über das Glas. Roswitha erinnerte sich an ein Telegramm von Frau Pulver:
»Es ist merkwürdig, welche Stille Schnee in eine Stadt bringt. Es ist, als ob Denken plötzlich erlaubt wäre.«
Das Museum schloss auch bei einem Blizzard pünktlich. Es gab kein Erbarmen. Die Angestellten schickten Roswitha vor die Tür.Als sie nach einem Taxi fragte, lachte die Frau am Ausgang nur. Ein bisschen wie in der DDR, dachte Roswitha. Auch auf der Straße drängte sich die Erinnerung auf. Die Fahrzeuge quälten sich im dichten Schneetreiben voran, und weit und breit war kein Schneepflug zu sehen. Auf den Gehwegen hatten sich Trampelpfade gebildet. Auf den glatten Steinen wurde der Schneematsch zu Schmierseife, und Roswitha kam nur schlurfend voran.
»Nehmt den Winter auf die Schippe« hatte im Herbst immer auf den Plakaten der Litfaßsäulen gestanden, und auch in Zeitungsartikeln wurde dem bevorstehenden Winter der Kampf angesagt. Es gab eine »Woche der Winterbereitschaft«, die meist bei sonnigem Herbstwetter stattfand. Die Stadtreinigung überprüfte ihre Schneepflugflotte und ihr Streusandvorkommen, die Betriebe zählten Schneeschieber und Kehrbesen, und alles mündete in dem lauthals verbreiteten Tenor: »Der Winter kann kommen!« Fiel dann im Dezember der erste Schnee, waren alle völlig überrascht.
Roswitha lief gegen den Wind und hatte das Gefühl, dass ihr die Schneeflocken waagerecht entgegenschossen. Innerhalb weniger Sekunden war sie von oben bis unten mit Schnee bedeckt. Sie flüchtete hin und wieder in einen Hauseingang, um sich den Schnee von den Sachen zu klopfen. Der Central Park sah aus wie ein Winterwald, doch Roswitha konnte sich nur bedingt an dem Zauber der Natur erfreuen. Sie hatte nasse Haare, kalte Füße, und ihre Jacke und Hose waren klamm. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hielt ein Bus. Hinter den beschlagenen Scheiben war die dunkle Masse der Fahrgäste zu erkennen. Der Bus fuhr weiter und ließ einen Teil der Wartenden an der Haltestelle zurück. Die nahmen es mit Gelassenheit. Auch dieses Verhalten kam Roswitha bekannt vor.
Sie lief in Richtung Columbus Circle. Das Vorwärtskommen war anstrengend, sie stemmte sich gegen die Böen. Schneeflocken wehten Roswitha beim Luftholen in den Mund. Als Kind hatte sie die Schneeflocken mit der Zunge gefangen.
Endlich sah sie den Kreisverkehr und die Columbus-Säule. Darauf bedacht, nicht auszurutschen, stieg sie die Stufen zur Subway nach unten. »Take the A-Train«. Auf dem Bahnsteig herrschte Verwirrung. Normalerweise war alles eindeutig geregelt. Auf der einen Seite fuhren die Expresszüge und auf der anderen Seite die »Locals«. In Anbetracht des Wetters beschloss Roswitha, bis zur 135. Straße zu fahren. Entsprechend der Ansage fuhr ein B-Train ein, allerdings auf der Seite der Expresszüge. Alle drängten in die Wagen. Dann sagte jemand im Waggon, dass der Zug nur an den Stationen der Expresszüge halten würde. Also stiegen sie vorsichtshalber wieder aus. Während sie den Wagen verließen, schnarrte es im Lautsprecher. Es klang, als säße jemand in einer Konservendose und würde um Hilfe rufen. Eine Frau glaubte verstanden zu haben, dass der Zug doch an allen Stationen hielt. In der Zwischenzeit war auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig ein weiterer Zug eingefahren, was die Konfusion noch verstärkte. Aussteigen, einsteigen. Sie hatten genügend Zeit, immer wieder zu wechseln, da die Züge aus unerklärlichen Gründen nicht weiter fuhren. Dass sich der Schneefall bis unter Tage auswirkte, war überraschend. Roswitha hätte von der perfekten amerikanischen Welt etwas anderes
Weitere Kostenlose Bücher