Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
erwartet.
Auch in jenem Winter, in dem Wladimir im Krankenhaus lag, war es sehr kalt gewesen. Ständig fielen die Straßenbahnen und Busse aus. Schon zwei Monate lang fuhr Roswitha an jedem Wochentag zur Besuchszeit in die Klinik. Am Morgen brachte sieOskar in die Kinderkrippe, weil sie hoffte, dass es gut für ihn war, mit fröhlichen Kindern zusammen zu sein. Wenn sie ihn abgegeben hatte, wurde sie noch trauriger. Manchmal fehlte ihr die Kraft, in die Hochschule zu gehen. Sie zwang sich, die Wohnung aufzuräumen und zu heizen. Mittlerweile war Roswithas Erkältung so stark, dass sie vollständig ihren Geschmacks- und Geruchssinn verloren hatte. Wenn sie für Oskar kochte, war es ein Blindflug. Doch er aß alles, was sie ihm vorsetzte. Er war ausgesprochen lieb, weinte nie und jammerte auch nicht wie sonst, wenn sie ihn am Morgen in der Kinderkrippe oder vor einem Krankenhausbesuch bei einer Studienfreundin abgab. Manchmal nahm sie ihn mit zu Wladimir. Oskar lief an ihrer Hand über die Gänge und winkte allen Patienten zu. Die meisten bekamen keinen oder nur sehr selten Besuch, und alle freuten sich, wenn sie Roswitha und vor allem Oskar sahen. Auch Bernd kroch nicht mehr unter sein Bett, wenn sie das Zimmer betrat. Sie kannte mittlerweile einen Teil der Patienten mit Namen; da war Frau Herlberg, die Roswitha mit ausgetreckter Hand entgegenkam und sagte: »Ich bin Frau Herlberg, und ich kann mir nichts merken!« Frau Herlberg arbeitete eigentlich als Sekretärin und wohnte seit ihrer Scheidung in einer winzigen Plattenbauwohnung. Unter den Patienten gab es sehr viele alleinstehende Frauen, und Roswitha hatte das Gefühl, dass den meisten einfach nur Liebe und Zuwendung fehlten. Dann gab es die Alteingesessenen wie Bernd und den freundlichen Patienten, der Roswitha immer zuvorkommend entgegenkam und behauptete, er sei »freiwillig hier«. Und es gab vorübergehende Patienten, zum Beispiel einen Tschechen, der in einem Zug wegen einer fünfstündigen Verspätung einen Tobsuchtsanfall bekommen hatte, was Roswitha eher für normal hielt.
Es war eine gemischte Station, Männer- und Frauenschlafräume lagen nebeneinander, und hin und wieder verirrte sich jemand und legte sich ins falsche Bett. Sexuelle Übergriffe schien jedoch niemand zu befürchten, was vermutlich an dem Wissen um die dämpfende Wirkung der Tabletten lag. Meist saßen die Patienten am Nachmittag, wenn Roswitha kam, vor dem Fernseher. Oft gemeinsam mit dem Personal, das sich damit einen ruhigen Arbeitstag verschaffte. Roswitha dachte, dass es sie in den Wahnsinn treiben würde, wenn sie den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen müsste.
Als Roswitha eine Woche nach Neujahr zusammen mit Oskar zu Besuch kam, wartete Frau Herlberg schon am Stationseingang und war so aufgeregt, dass Roswitha nicht verstand, was sie ihr mitteilen wollte. Sie begriff es, als sie in Wladimirs Zimmer kam. Sein Bett war abgezogen und an die Wand gerückt. Die Spindtür stand offen, alle Sachen fehlten.
»Er ist verlegt«, sagte der freundliche Patient, »dahin, wo die Verrückten sind.« Er legte sich die Finger wie Gitter vor die Augen. »Alle eingesperrt!«
Wladimir war in eine geschlossene Station verlegt worden. Roswitha musste lange klingeln, bevor ihr eine Schwester öffnete. Auch hier lief der Fernseher. Wladimir lag in einem Zimmer mit vergitterten Fenstern. Er zeigte keine Regung, als Roswitha an sein Bett trat und auch nicht, als sie ihm Oskar auf den Bauch setzte.
Roswitha weinte den ganzen Weg bis zur Bushaltestelle. Oskar war sofort in seinem Wagen eingeschlafen, als wolle er sich schützen. Am nächsten Tag fuhr Roswitha schon am Mittag ins Krankenhaus. Die Ärztin machte ein sorgenvolles Gesicht.
»Ich habe es Ihnen prophezeit, es wird schlimmer werden. Wir mussten Ihren Mann verlegen, zu seinem eigenen Schutz, er hat versucht, aus dem Fenster zu springen, weil er nach unten wollte.«
»Aber warum ist er nicht durch die Tür gegangen?«
»Er hat gedacht, seine Mutter steht unten am Fenster und ruft nach ihm.«
»Seine Mutter?«, fragte Roswitha.
»Ja, seine Mutter!«
Roswitha schwieg. Sie zwang sich zu schweigen, weil sie wusste, dass dieses Schweigen ein Sieg war. Vielleicht dachte die Ärztin, dass Roswitha eifersüchtig sei, dass Wladimir zu seiner Mutter und nicht zu seiner Ehefrau springen wollte. Doch es gab einen anderen Grund, weshalb Roswitha nachgefragt hatte. Wladimirs Mutter war gestorben, als er ein kleines Kind war, und der Vater hatte die
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