Wenn du lügst
Er konnte nicht eineinhalb Tage lang am Steuer sitzen, ohne zu schlafen. Sie würden in dem Motel übernachten müssen, was riskant war. Es war schwer zu sagen, wie Lily reagieren würde.
Diese ganze Sache lag sowieso in den letzten Zügen.
Er sollte allmählich darüber nachdenken, seine Verluste zu minimieren. Jena würde nicht mehr viel länger arbeiten können, und wenn sie nicht arbeiten konnte, musste er sich ihrer entledigen.
Aber er hatte zu Hause noch eine Sache zu Ende zu bringen. Wie konnte das kleine Biest glauben, dass es damit davonkommen würde? Als wäre es ihre Entscheidung, wegzugehen oder nicht. Es war für sie an der Zeit zu lernen, dass sie nicht pinkeln gehen konnte, ohne ihn vorher um Erlaubnis zu fragen. Wenngleich er zugeben musste, dass er es anfangs genossen hatte, von Lily befreit zu sein. Kein neugieriges Paar Augen. Keine potenzielle Zeugin. Keine Konkurrenz um Jenas Aufmerksamkeit. Totale Isolation.
Aber es hatte nicht funktioniert. Ohne Lily hatte er keine wirkliche Macht über Jena. Sie hatte sich an einen Ort zurückgezogen, wo sie für ihn unerreichbar war. Ihr war inzwischen alles gleichgültig. Sie war unempfänglich für Schmerz und schien die Demütigungen gar nicht mehr wahrzunehmen. Sie hatte einen Punkt erreicht, an dem er den Verdacht hatte, dass sie hoffte, er würde sie töten, deshalb hatten Drohungen keinen Zweck mehr. Das Einzige, wovor sie noch immer Angst hatte, war, dass Lily etwas zustoßen könnte.
Aber bei Jena wusste man nie so genau, woran man war. Jedes Mal, wenn er dachte, dass sie komplett hinüber sei, ertappte er sie dabei, wie sie ihn ansah, und für einen Moment war ihre alte Intelligenz wieder da - vielleicht tiefer verborgen in ihren Augen als früher, aber immer noch existent. Da gab es noch etwas, über das er keine Macht hatte.
Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte. Es ging mit ihr so rapide bergab, dass es nur noch eine Frage der Zeit war. Aber er glaubte, dass da noch ein letztes Aufbegehren in ihr steckte. Eine letzte Runde. Er musste lächeln, als er sich daran erinnerte, wie es früher gewesen war: diese verängstigen Augen, die so weit aufgerissen waren, dass man das Weiße sehen konnte; die bleiche, bebende Haut um ihren Mund; der Schock und die Angst, die sich so prägnant in der straff gespannten Haut und den starren Gesichtszügen abzeichneten. Es war besser als Crack, besser als Kokain; ein Hochgefühl, das sich mit nichts vergleichen ließ. Er könnte vielleicht noch ein Jahr von diesen alten Zeiten bekommen, überlegte er. Aber nur, wenn er Lily wieder nach Hause schaffte.
Er sah das Hinweisschild für das Motel und fuhr von der Autobahn ab. Er hielt den Wagen vor dem Vordach an und sah zu Jena rüber, aber weder hatte sich ihr Ausdruck geändert, noch machte sie Anstalten, die Tür zu öffnen. Sie hatte nicht gefragt, wohin sie fuhren oder warum.
Er sagte: »Wir gehen rein und lassen uns einen Zimmerschlüssel geben. Ich will, dass du mit mir kommst.«
Sie sah ihn an. Sie wusste, dass sie keine Fragen zu stellen hatte.
Er öffnete die Tür, um auszusteigen, dann ließ er sich zurück auf den Sitz sinken. Der Rezeptionist könnte es ansprechen, und er wollte nicht, dass sie vor ihm eine Szene machte, deshalb war es besser, es ihr jetzt gleich zu sagen.
»Lily ist hier. Wir nehmen sie mit nach Hause. Falls der Mann an der Rezeption sie erwähnt, hältst du die Klappe.«
Eine Schockwelle schien sich aus den Tiefen von Jenas Augen aufzutürmen und in ihrem Gesicht zu zerbersten. Sie sah ihn an, und die alte Jena war zurück, als wäre sie gerade aufgewacht. Er hatte es sich nicht eingebildet. Etwas von ihr war noch übrig.
»Was hast du denn gedacht?«, fragte er ruhig. »Dass ich sie einfach so gehen lassen würde? Du solltest mich besser kennen. Sag ein einziges Wort zu dem Typen, und ich bring sie nach Hause und halte ihre Hand in den Abfallzerkleinerer, bis sie Hackfleisch ist. Und du wirst dabei zusehen.« Er stieg aus dem Auto und ging in der Gewissheit, dass Jena ihm folgen würde, zur Eingangstür.
An der Rezeption war ein schlaksiger, junger Mann mit eingezogenen Schultern und sorgenvollen Augen. Er sah Jena an, und sie wappnete sich für eine genaue Musterung, aber es blieb bei diesem einen flüchtigen Blick. Er wandte seine Aufmerksamkeit sofort wieder dem lächelnden Jerry zu.
Jerry knipste seinen Charme an, und Jena beobachtete, wie der verzagte Angestellte ihm erlag. War das damals, vor langer Zeit, bei ihr
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