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Wenn du lügst

Wenn du lügst

Titel: Wenn du lügst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Salter
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Missverständnis sein. »Wer spricht da?«
    »Sind Sie eine Freundin von meiner Mutter?«, wiederholte sie, diesmal ungeduldig und näher am Hörer,
so als hätte sie Angst, belauscht zu werden. Ich schloss die Augen, um mich auf die Worte zu konzentrieren, weil die Farben mich ablenkten - viel stärker, als sie das tagsüber taten. Natürlich half das nichts. Die Farbe war in meinem Kopf, nicht außerhalb, und sie pulsierte dort weiter wie ein orangefarbener Stern kurz vor der Supernova.
    »Wer ist deine Mutter, Schätzchen?«, fragte ich schließlich, während ich mich vom Boden hochrappelte.
    »Jena.« Und ich hörte die Tränen. »Sie kennen Jena. Sie müssen sie kennen. Sie spricht von Ihnen. Andauernd. Zumindest hat sie das getan.«
    »Jena?«, wiederholte ich ungläubig. »Jena Jensen? Aus Clark?«
    »Wenn Sie eine Freundin von meiner Mutter sind« - die Sternengalaxie schien sich vor Zorn zu verdunkeln und anschließend zu implodieren - »warum … sind Sie dann … nicht hier?« Ich nahm ein Beben über den Worten wahr, das wie der Anfang von etwas klang - Tränen vielleicht, wenn nicht gar ein Wimmern. Ich wollte gerade etwas erwidern - was, das weiß ich nicht -, als ich im Hintergrund einen lauten Ruf hörte, und dann war die Verbindung weg.
    Konnte das Jenas Tochter gewesen sein? Jena - die während der ganzen Kindheit meine beste Freundin gewesen war? Ich wusste noch nicht einmal, dass sie eine Tochter hatte. Aber wo war Jena selbst? Jena mit dem aschblonden, gleich einer Löwenmähne gesprenkelten Haar und den großen Augen und der prägnanten Nase und der Mutter, die mit zur Größe eines Zehncentstücks erweiterten Pupillen am Frühstückstisch einschlief?
Jena mit der hübschesten Stimme, die ich je gesehen hatte - eine Art von herumwirbelndem Wasser mit winzigen gelben Sprenkeln darin. Jena mit dem arbeitseifrigen Chirurgen-Vater, der nie da war, und, wenn doch, einfach an der schlafenden Mutter und der stillen Jena vorbeiging. Ich war bereits erwachsen, als mir endlich klar wurde, dass diese Drogen von irgendwoher kommen mussten und es unwahrscheinlich war, dass ihre Mutter sie einfach auf der Straße kaufte. Schon vor Jahren hatte ich den Kontakt zu Jena verloren. Jetzt kam die Erinnerung an sie in so lebhafter Deutlichkeit zurück, wie ich sie sonst nur bei Farben empfand.
    Das, was mir in Bezug auf Jena am stärksten im Gedächtnis haften geblieben war, waren nicht die schlafende Mutter oder die schalen Frühstücksflocken im Küchenschrank: Es waren ihre Träume. Woche für Woche, von der fünften Klasse bis zur achten, erzählte sie mir ihre regelmäßig wiederkehrenden Träume über einen Geheimagenten, der spektakuläre, todesmutige Abenteuer bestand, die mit nichts zu vergleichen waren, was in Clark, North Carolina, wo wir beide aufwuchsen, passierte. Jedes Mal, bevor sie aufwachte, bekam er schnell noch einen Umschlag, der ihm seinen nächsten Einsatzort verriet. Wenn sie dann das nächste Mal von ihm träumte, würde er sich genau dorthin begeben.
    Einmal hatte ich Jena unterstellt, die Geschichten zu erfinden, sie gar nicht zu träumen, und sie hatte mich daraufhin überrascht angesehen. »Sie erfinden?«, hatte sie gefragt. »Wie sollte ich das denn anstellen?«
    Es war dumm von mir gewesen, das zu behaupten. Ich hätte besser als jeder andere wissen müssen, dass man
etwas Ungewöhnliches an sich haben kann, ohne gleich ein Lügner zu sein. Jena war der erste und einzige Mensch in meiner Kindheit, dem ich von den Farben und meinen Handflächen erzählte. Ich hatte damals keinen Ausdruck dafür, deshalb beschrieb ich ihr einfach, was ich sah. Jena blinzelte noch nicht einmal. Ich hatte das vage Gefühl, dass in ihrem Kopf noch seltsamere Dinge vor sich gehen mussten.
    Als der Highschool-Abschluss bevorstand und jeder von uns an nichts anderes mehr dachte als an Jobs oder das College oder eine Heirat oder aus Clark wegzugehen oder nicht aus Clark wegzugehen, verlor Jena weder zu mir noch zu sonst jemand ein Wort über ihre Pläne. Deshalb war ich sprachlos, als sie am Tag nach der Abschlussprüfung auf ihrem Fahrrad zu mir nach Hause kam, um mir mitzuteilen, dass sie auf dem Weg nach Kalifornien sei. Sie hatte das Ganze von langer Hand geplant. In ihren Satteltaschen hatte sie nur einen einzigen Satz Kleidung, dafür aber ein Sammelsurium an Ersatzreifen, Werkzeugen, Wartungszubehör und Straßenkarten. Sie wollte sich zunächst einer organisierten Radtour anschließen und die restliche

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