Wenn du lügst
Strecke dann allein bewältigen.
Ich war jetzt hellwach, deshalb ging ich hinaus auf den kleinen Balkon und versuchte nachzudenken. Aber das Einzige, was mir in den Kopf kam, waren Erinnerungen an Jena. Wie wir uns in der fünften Klasse Zettelchen zugeschoben hatten. Wie wir bei gegenseitigen Übernachtungen so lange gequatscht hatten, bis eine von uns mitten im Satz eingeschlafen war. Wie wir auf einer Sandbank Muscheln gesucht und sie anschließend
alle verloren hatten, als mein dreieinhalb Meter langes Segelboot auf der Rückfahrt umkippte.
Der Anruf hatte mich aus der Fassung gebracht, und ich versuchte, mich zu beruhigen. Vielleicht war das einfach nur eine hysterische Jugendliche gewesen, und was auch immer sie mir hatte sagen wollen, war bei Weitem nicht so dramatisch, wie sie dachte. Vielleicht regte ich mich wegen nichts auf.
Ich glaubte nicht daran. Echte Angst oder Panik, wie auch immer man es nennen will, hat etwas an sich, das man nicht vortäuschen kann. Ich war schon zigmal in meinem Leben damit konfrontiert worden und kenne keine einzige Schauspielerin, die es richtig hinbekommt. Diese Stimme war echt gewesen. Und was immer der Auslöser für ihre Angst war, war ebenso echt.
Ich hatte keine Möglichkeit, den Anruf zurückzuverfolgen. Das Telefonsystem der Insel war nicht ausgefeilt genug, um auch nur den Service einer Anklopffunktion zu bieten. Wie sollte ich sie ausfindig machen? Ich ging wieder nach drinnen, da fiel mein Blick auf den kleinen Laptop auf meinem Schreibtisch. Es gab immer noch das Internet. Genau wie die restliche Welt hatten auch wir auf Blackbeard’s Isle Internet, und das riesige neuronale Netzwerk, zu dem es Zugang gewährte, umspannte den Planeten wie ein Haarnetz mit feinen Maschen. Wir alle waren in diesem Netz gefangen. Teile von uns - Telefonnummern, Adressen, Kreditkartennummern, Führerscheinnummern, Führungszeugnisse, Immobilienbesitz, bezahlte oder unbezahlte Steuern, Kindesunterhalt - steckten irgendwo in diesem Netz. Die Suchmaschinen, die die Milliarden von Verbindungen durchforsteten,
summten wie Laser, die durch Papier schnitten. Auch Jena steckte irgendwo in diesem Netz, und heutzutage konnte man mit sehr wenig Aufwand und praktisch kostenlos jedermann überall aufspüren.
Ich schaltete den Computer ein. Sich ins Internet einzuloggen war, als würde man mit einem Klick sämtliche Einkaufszentren der Welt gleichzeitig betreten. Anzeigen tauchten plötzlich auf, die mich dazu drängten, in die Karibik zu reisen, einen besseren WC-Reiniger zu kaufen oder meinen Penis verlängern zu lassen. Ich seufzte. Es war, als würde ich die Welt jenseits von Blackbeard’s Isle direkt in mein Wohnzimmer lassen. Ich schauderte, stand abrupt auf und stellte die Stereoanlage an. Yo-Yo Ma ergoss sich in den Raum, und vor mir begannen goldene Kugeln wie vorübertreibende Heißluftballons zu tanzen. Was für eine Schande, dass er selbst sie niemals sehen könnte.
Ich brauchte nur zehn Minuten, um Jena zu finden. Es erforderte nicht mehr, als Google aufzurufen und »Personen finden« einzutippen. Ein Dutzend Seiten tauchten auf, durch die ich für lumpige Beträge so ziemlich jeden finden konnte. Ich wusste noch Jenas Geburtsdatum, weil es nur zwei Wochen nach meinem lag. Diese Information zusammen mit ihrem vollen Namen genügte, dass das Internet sie mit pinzettenartiger Genauigkeit aus den Millionen anderer herausfischte. Ich wusste nun, wo sie lebte. Ich wusste, dass und wann sie geheiratet hatte - vor exakt drei Jahren -, und kannte außerdem den Namen ihres Ehemanns. Ich wusste, dass es keine Zivilklagen gegen sie gab und sie nicht vorbestraft war.
Nur so zum Spaß überprüfte ich ihren Mann ebenfalls. Ich wusste seinen Geburtstag nicht, dafür aber, wo er lebte, nämlich bei Jena. Ausgerüstet mit seinem Namen und seiner Adresse fand ich genug heraus, um zu wissen, dass Jena mit ihrer Heirat ein ziemliches Wagnis eingegangen war.
Ich starrte ein paar Minuten lang das Telefon an, dann dachte ich: was soll’s?, und griff danach. Es war mitten in der Nacht, aber das war es auch bei dem Anruf ihrer Tochter gewesen, und ich wettete, dass er von derselben Nummer gekommen war. Ging es hier wirklich um einen Notfall oder nicht? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Meine Hände schienen einigermaßen ruhig zu sein, aber ich fühlte mich leicht benommen und atemlos. Das Telefon klingelte fünfmal, bevor abgenommen wurde.
»Hallo?«, sagte Jena. Ich war so
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