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Wenn du lügst

Wenn du lügst

Titel: Wenn du lügst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Salter
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erleichtert, dass ich eine Sekunde lang nicht sprechen konnte. »Hallo?«, kam es noch einmal. »Wer ist da?« Die Erleichterung verflüchtigte sich, als mir klar wurde, dass sich das von mir früher so geliebte herumwirbelnde Wasser mit den gelben Tupfen verändert hatte. Ich konnte jetzt keine Wirbel mehr sehen, und die Tupfen wirkten eher länglich und zerfranst. Die Farben waren nicht mehr lebhaft, sondern ausgewaschen und ungleichmäßig.
    »Jena«, sagte ich schließlich. »Hier ist Breeze.« Ich wartete, dass sie etwas erwiderte, aber das tat sie nicht. »Hier ist Breeze«, wiederholte ich. »Ist bei dir alles in Ordnung?« Sie sagte noch immer nichts. »Sprich mit mir, Jena«, bat ich sie sanft. Noch immer keine Antwort. Es war gespenstisch. Obwohl ich nichts hörte, konnte
ich ihre Präsenz so stark spüren, als wäre sie bei mir im Zimmer. Dann ertönte ein Klicken, und sie war weg.
    Ich hatte keine Haustiere, keinen Ehemann, keine Kinder. Ich musste weder eine Stechuhr drücken noch einem Chef Bescheid geben. Ich hatte noch nicht einmal einen Freund, dem ich eine Nachricht hinterlassen sollte. Ich überprüfte die Adresse im Internet ein letztes Mal, dann griff ich wieder zum Hörer und rief die Fluggesellschaften an. Jena war Familie. Auf keinen Fall würde ich das hier auf sich beruhen lassen.
     
    Die erste Fähre ging zu einer gottlos frühen Stunde, und falls es etwas gab, das mich ein bisschen darüber hinwegtröstete, Blackbeard’s Isle so bald nach meiner Rückkehr wieder verlassen zu müssen, dann war es der Sonnenaufgang, der hinter der Fähre erblühte, als sie in westlicher Richtung auf das Festland zusteuerte. Jeder Sonnenaufgang scheint seine eigene Persönlichkeit zu haben, und dieser hier verströmte eine bedächtige, ausgeglichene Ruhe, in die sich eine Art leise Heiterkeit mischte. Die Sonne schien schwerelos durch eine Komposition unaufdringlicher, subtiler Farben zu gleiten, wie ein Kind sie erschaffen könnte, das mit Pastelltönen spielt.
    Es gab auch Tage, an denen die Sonne kreischend und blutrote Streifen hinter sich herziehend über den Morgenhimmel zu jagen schien, aber dabei handelte es sich um eine völlig andere Art von Tagen. Dieser Tag begann leise und friedlich, zumindest, soweit es die Natur betraf.
    Ich befreite mein langes, rotes Haar aus seinem Zopf und ließ den Wind damit spielen. Nicht einmal die Sorge
um Jena konnte meiner Freude, auf dem Wasser zu sein, wirklich etwas anhaben. Was ich daran am meisten liebte, war das Dazwischen, wenn nirgendwo eine Küste war, die mich begrenzte. Gleich einer Liebenden auf dem Weg in ein neues Schicksal beobachtete ich, wie Blackbeard’s Isle zu einer dunstigen Linie schrumpfte, bevor ich - wie ich es jedes Mal tat - zum Bug der Fähre ging, nur um mich zu vergewissern, dass nichts vor mir lag. Aber da war nichts zwischen der letzten Küste und der nächsten, abgesehen von dem leisen Brummen der Motoren, die sich durch die Dünung arbeiteten, dem heiseren Kreischen der Möwen, die nach Leckerbissen tauchten, und dem Meer selbst, welches sich wie ein endloser, schützender Puffer zwischen mir und der Hektik an Land erstreckte. Ich liebte diese Überfahrten. Keine Straftäter, kein Papierkram, keine Gerichtstermine, keine Berichte, noch nicht einmal die unaufhörlichen Details des Einkaufens, Putzens und, ja, des Lebens. Hier draußen hatte ich keine Termine einzuhalten, keine Anrufe zu tätigen.
    Pamlico Sound war heute gut in Form. Es zog gerade ein Wind auf, und auf den Wellen bildeten sich bereits Schaumkronen. Trotz des friedvollen Sonnenaufgangs lautete die Wetterprognose, dass mit einem Nordoststurm zu rechnen sei, und das war nie ein guter Zeitpunkt, um die Insel zu verlassen. Es gab einfach nichts Großartigeres, als am Ufer zu stehen und zuzusehen, wie ein Nordoststurm die Welt in Stücke riss: ohne Rücksicht auf Anstand oder Schicklichkeit, die Flaggen und Wetterfahnen peitschend, bis sie knatterten und trudelten, und keinerlei Respekt zeigend für Mr Donovans
obsessiv gepflegten Garten. Jeder spricht immer von der Raserei solcher Stürme, aber ich habe nie einen ohne Sinn für Humor erlebt.
    Doch an diesem Tag konnten nicht einmal der pastellfarbene Sonnenaufgang und der hypnotische Rhythmus der Dünung das Land ganz von mir fernhalten. Der Anruf von letzter Nacht spukte mir unaufhörlich im Kopf herum, so wie ein Zahnschmerz, der ständig wiederkommt. Das Problem an Sorgen ist, dass sie einen von den Farben ablenken.

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