ErosÄrger
PROLOG
Er war schon immer ein Rindvieh gewesen – das unattraktivste und unflätigste, das sie kannte. Dass er sich eines Tages tatsächlich einmal in eines verwandeln würde, war für Tatjana bereits seit ihrem dritten Lebensjahr absehbar gewesen.
Für den Rest der Welt offenbar nicht.
Sonst würde sie – angesehene Journalistin – nun nicht mitten im ansonsten menschenleeren Steakhaus Dubrovnik sitzen und gemeinsam mit ihrem Fernsehteam zusehen, wie der ohnehin zur Leibesfülle neigende Sandro de Rose einen Artgenossen in sich hineinschaufelte. Blutig, nicht Medium!
Sandros schlecht sitzender Anzug schrie förmlich nach seinem größeren Bruder und auch die billige Krawatte, die Jack Skelletington aus dem Film »The Nightmare before Christmas« zeigte, ließ nicht darauf schließen, dass es de Rose trotz seines Charakters geschafft hatte, eine wichtige Position in der übernatürlichen Welt einzunehmen.
Überhaupt war der makabere Treffpunkt Sandros Idee gewesen. Eine Auflehnung gegen die »political correctness« der vergangenen Wochen und ein Statement gegen die »Selbstzerfleischung der magisch-mythologischen Gemeinschaft«. Seine Worte, nicht ihre. Innerlich schüttelte sich Tatjana sowohl vor den brachialen Methoden, die ihr Gegenüber benutzte, um seine Botschaft zu transportieren, aber auch vor Sandro selbst. Ihm unter solchen Umständen wieder begegnen zu müssen … Als der Kameramann ihr endlich das »Go« signalisierte, sah Tatjana gespielt nachdenklich auf ihren Fragenkatalog, um der einleitenden Stimme aus dem »Off« Zeit für die Einleitung der Sendung zu geben. Dann begann sie wie üblich unverbindlich: »Wie darf ich dich als Leiter des deutschen Werkuh-Zusammenschlusses ansprechen?«
Sandro sah sie mit einem Blick an, den er vermutlich für verführerisch hielt. »Schatz, du weißt doch: DU darfst mich ansprechen und nennen, wie du willst!«
Kindskopf!
Die Journalistin strich sich nervös eine Strähne ihres braunen Fransenhaarschnitts hinters Ohr und zwang sich zu einem Lächeln. Dass sich ihr erklärter Sandkastenfeind mit zu vielen Mägen und dem Problem des Wiederkäuens beschäftigen musste, erschien ihr mit einem Mal nur allzu gerecht.
Dann riss sie sich zusammen und formulierte die Frage – auf die sie ohnehin die Antwort kannte – um: »Wie ist der offizielle Titel, den du als Chef des deutschen Werkuh-Zusammenschlusses trägst?«
»WerRIND!«, korrigierte Sandro. Zu ihrer Überraschung ohne Tadel. Offensichtlich kannte er die Sendung »Übernatürliches für Jedermann« und Tatjanas Art Unwissenheit vorzutäuschen, damit sich sowohl die unwissenden übersinnlichen als auch die ebenso unwissenden und teils vorurteilsbehafteten menschlichen Zuschauer mit ihr identifizieren konnten.
»Der Zusammenschluss umfasst nicht nur die Rinder, sondern alle Paarhufer. Deswegen heißt er auch WerArtiodactyla – für den Laien auch WerPaarhufer. Mein Titel ist Bovidaeus!« Für Sekunden war die Journalistin erleichtert.
Vielleicht wird das Interview doch nicht so schlimm
. Dann sah Sandro sie mit seinen immer noch sehr beeindruckenden braunen und immer noch sehr menschlichen Augen an, steckte sich den letzten Bissen seines Steaks in den Mund und fügte kauend hinzu: »Oder auch Super-Stier!«
Der Journalistin gelang es, Sandros Anzüglichkeit mit einem Lächeln zu kaschieren, während er seinen Teller zur Seite schob und sie abwertend musterte. Wenn er glaubte, mit seinen degradierenden Sprüchen dort weitermachen zu können, wo sie vor ihrem Abitur aufgehört hatten, hatte er sich getäuscht!
Von ihrer Professionalität in Schach gehalten, malte sich Tatjanas Schadenfreude trotzdem Szenarien aus, wie Sandro zum WerRind geworden war.
»Und?«, erkundigte sie sich. »Was hat dich zum Bovidaeus, zum Super-Stier gemacht? Genetik, ein Unfall, Vorsatz…«
»Endlich stellst du die richtige Frage! Ich könnte es dir zeigen!« Sandro lachte anzüglich. Ein Geräusch, das Tatjana nur zu oft während der gemeinsamen Schulzeit malträtiert hatte.
»Unter vier Augen!«, fügte ihr erklärter Feind offensiv hinzu.
Abrupt drehte sich die Journalistin zu ihrem Team um. »Entschuldigt ihr uns einen Moment?!« Tatjanas Stimme enthielt keine Bitte, und sie wartete nicht, bis ihr Kameramann und der Tontechniker ihrem Befehl folgten, bevor sie lospolterte.
»Ich weiß, dass du mich nicht leiden kannst – genauso wenig, wie ich dich leiden kann! Aber du hast verdammt noch mal gewusst, dass ich
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