Wenn du mich brauchst
– Um Himmels willen, Chajm!«, rief sie stattdessen auf Hebräisch.
»Hi, Tante Delia«, murmelte mein Cousin und ließ seinen Sportrucksack von der Schulter rutschen. Er massierte für einen Moment mit der linken Hand seine rechte Schulter und verzog das Gesicht.
»Er sieht aus wie Kafka«, flüsterte Shar mir beeindruckt zu.
»Unsinn«, erwiderte ich eine Spur gereizt. »Willst du was trinken, Chajm?«
Er nickte dankbar und ich holte ihm leise eine Cola aus der Küche.
»Junge, wo kommst du her? Wie ist das möglich? Warum hast du nicht …? Wissen deine Eltern, dass du …?« Vor Aufregung mischte meine Mutter ihr Englisch und ihr Hebräisch zu einem wirren Kauderwelsch.
»Alon!«, rief in diesem Moment Jonathan jubelnd von der Treppe. Er sah verschlafen und zerstrubbelt aus, aber das hinderte ihn nicht, begeistert die Treppe hinunterzustürmen, um seinen Lieblingscousin zu begrüßen. Es war zwei Jahre her, seit er ihn zum letzten Mal getroffen hatte, da war es kein Wunder, dass er Chajm und Alon verwechselte. Die beiden sahen sich ziemlich ähnlich, obwohl sie nur Cousins waren.
»Hey, Kleiner«, sagte Chajm matt und strubbelte Jonathan durch die Haare. »Ich wünschte, ich wäre Alon, glaub mir. Dann hätte ich den Blödsinn schon hinter mir. – Aber ich bin’s – Chajm, Joni! – Aber was ist mit dir? Ich dachte, du wärst ein armes, krankes Häschen? Stattdessen tobst du hier mitten in der Nacht durchs Haus wie ein Wilder?«
Jonathan gluckste zufrieden, dabei war er immer noch schrecklich blass und dünn und mickrig. Außerdem machten ihm die Medikamente zu schaffen, die er nehmen musste. Aber im Augenblick war das anscheinend egal.
»Sky war das!«, erklärte er triumphierend. »Meine andere Schwester.« Er warf mir einen Blick zu. »Du musst sie mal sehen, Chajm. Sie ist nett. Und lustig. Und …«
Ging das schon wieder los? Gleich würde er wieder ihr Aussehen preisen, ich wartete nur darauf.
Aber so weit kam es nicht, denn Jonathans durchdringende Stimme hatte den Rest der Familie geweckt.
»Was machst du denn hier?«, fragte David gähnend und streckte sich. »Ich dachte, du wärst seit dieser Woche beim Militär?«
»Bubele! Chas Wachalilah!«, rief unsere israelische Großmutter aufgeregt und hellwach. Im Herunterhasten knotete sie hastig ihren Morgenmantel über ihrem knöchellangen Nachthemd zu. Unser Großvater warf nur einen flüchtigen Blick über das Treppengeländer. Dazu gähnte er ausgiebig.
»Na – geflohen vor der lästigen Pflicht?«, fragte er und drohte Chajm mit dem Zeigefinger, allerdings lächelte er dabei.
Chajm schwieg, aber seine Augen verengten sich, das sah ich.
»Delia, ruf deine Schwester Rahel an und sag ihr, dass ihr Sohn hier ist, damit sie sich beruhigt. Wie ich sie kenne, schreit sie bereits ganz Ramat Aviv zusammen. Das Militär wird sie mit Sicherheit schon informiert haben, nehme ich an«, war alles, was er noch sagte, ehe er sich wieder schlafen legte.
»Und so was nennt sich Rabbi«, murmelte David.
»Ich verstehe von allem nur die Hälfte«, flüsterte Shar mir zu. »Und dabei hatte ich im letzten Zeugnis in Hebräisch ein B+. Ist das zu glauben?«
»Drei aus meiner Abschlussklasse müssen nicht hin, verdammt«, erklärte Chajm in diesem Moment niemandem bestimmten. Es sah so aus, als spräche er einfach so vor sich hin. »Sie behaupten, sie würden Gewissensgründe in der Zwischenzeit ebenfalls akzeptieren – so wie andere Staaten auch! Aber mich wollen sie dennoch zwingen, diese Militärhurensöhne.«
»Du solltest dich nicht drücken, Chajm«, erklärte David leise. »Und nicht fluchen. – Was ist nur los mit dir?«
Er ging kopfschüttelnd für einen Moment in die Küche, wusch sich dort die Hände, kam mit einem unbenutzten Glas zurück ins Wohnzimmer, in dem wir uns in der Zwischenzeit alle versammelt hatten, und sprach das dazugehörige Gebet al netilas jodojim . Dann goss er sich ein Glas Orangensaft ein und leerte es in einem Zug. »Ich habe mich freiwillig gemeldet und werde, wie es aussieht, im Winter nach Tel Aviv gehen.«
Kendra und ich warfen uns einen Blick zu. Das waren allerdings wirklich Neuigkeiten. Ob Davids Freundin Rivki dahintersteckte? Sie war ein großer Fan des israelischen Militärs, wie David uns berichtet hatte, und würde ebenfalls in naher Zukunft den israelischen Militärdienst absolvieren.
»Danke, dass du uns auch was anbietest, Dave«, sagte Shar in diesem Moment spitz und deutete auf Davids Glas. Er
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