Wenn du mich brauchst
es ein furchtbarer Tag. Ich habe praktisch am Telefon miterlebt, wie Old Niall starb.«
»Was wollte der alte Mistkerl eigentlich so Dringendes?«, erkundigte sich Leek eine Weile später. Wir, das waren Kendra, Rosie, Leek und ich, hatten uns in unserer kleinen Küche versammelt und er kochte mal wieder Tee für alle. »Er hat exakt zweiunddreißig Mal bei mir angerufen und eine Masse wütende Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen, während ich in den Bergen war.«
Er wischte sich über die Augen. Er hatte Old Niall sehr geliebt, das wussten wir alle.
»Er wollte – sich vermutlich verabschieden«, sagte ich und starrte auf den schmutzigen Fußboden.
Ich brauchte noch eine Weile, bis ich es erzählen konnte. Und ich wollte auf Moon warten. Er mochte Old Niall sehr. Es würde ihn ganz schön aus der Bahn werfen, dass er tot war. Und dann noch diese IRA-Story dazu …
»Was hat diese Chrippa denn nun eigentlich an Moon geschrieben?«, fragte Kendra und meinte den zusammengeknüllten Zettel, den Leek in unserem Küchenmüll entdeckt hatte.
Wir gingen ins Wohnzimmer und ließen Rosie und Leek in der Küche zurück.
Ich schob Kendra wortlos das geglättete Stück Papier zu, das auf dem Wohnzimmertisch lag.
Der Außenseiter macht sich gut in Romanen, Moon!, hatte Chrippa geschrieben. Im realen Leben ist das eine blöde Rolle! Gruß, Chrippa!
»Was soll das?«, fragte Kendra.
»Ich schätze mal, so ist sie«, sagte ich. »Sagt, was sie denkt.«
»Mist«, sagte Kendra und starrte immer noch auf Chrippas warnende Worte. »Glaubst du …?« Sie schien nach Worten zu suchen. Dann nahm sie einen neuen Anlauf. »… glaubst du, er – könnte sich was angetan haben?«
Ich schüttelte schnell den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte ich leise und beschwörend. »So ist er nicht, denke ich. Er ist jetzt aufgewühlt. Und sauer. Und trotzig. Und so was. – Aber er ist nicht – lebensmüde.« Ich schaute Kendra in die Augen. »Zumindest hoffe ich das.«
Kendra nickte. »Diese Chrippa hat sie doch nicht alle. Warum muss sie Moon so fertigmachen? Will sie was von ihm? Ist es das?«
Ich hob die Schultern.
»Aber was sie schreibt, ist wahr«, sagte ich dann noch leiser, als ich davor gesprochen hatte.
Später saßen Kendra und ich eingewickelt in Decken unter Moons Olivenbaum und sahen uns an seiner Stelle den Sonnenuntergang an. »Es ist aber nicht nur dieser blöde Brief von dieser bescheuerten Tussi, der ihn aus der Bahn geworfen hat«, sagte Kendra irgendwann nachdenklich. »Sky, es ist auch, weil er dich wie verrückt liebt und jetzt – wo du nicht mehr seine Schwester bist – völlig neben sich steht. Er weiß nicht mehr, wie er seine Gefühle einordnen soll, verstehst du?«
Ich hob verwirrt den Kopf. »Wie kommst du denn auf diesen Mist?«, fragte ich misstrauisch.
»Mann, Sky, denk nach! – Er hat es mir gesagt, verdammt!«, antwortete Kendra heftig.
»Wann und wieso denn das?«, erkundigte ich mich perplex.
»Irgendwann. Letzte Woche. Weil es die Wahrheit ist, Sky«, sagte Kendra und dann fing sie an zu weinen. Die Sorge um Moon machte uns alle mürbe.
Okay, alles war ein einziger Mist. Ich war das Opfer einer Neugeborenenverwechslung, Moon war aus mannigfaltigen Gründen verschwunden, Old Niall war ein toter Problemfall der besonderen Art – kurz, mein Leben war völlig aus den Angeln gehoben. Aber wenigstens kam endlich ein Lebenszeichen von Moon.
Es kam am selben Tag, an dem Leek es schaffte, Chrippa Chesapeake aufzuspüren. »Sie wohnt schon seit über einem Jahr nicht mehr bei ihren Eltern und ich kann es ihr nicht verdenken«, berichtete er uns. »Sie lebt mal hier und mal da«, fuhr er fort und hockte sich auf die sonnengelbe Yogamatte, auf der Rosie lag. Leek setzte sich so hin, dass seine Knie ein schützendes Dach über ihren angewinkelten Beinen bildete. Er begann, sachte ihren Oberschenkel zu streicheln.
»Wie auch immer, ich habe sie aufgetrieben«, fuhr er fort. »Zurzeit jobbt sie in einem ziemlich heruntergekommenen Motorradstore in einem Außenbezirk.«
»Und?«, fragte Rosie leise. »Weiß sie, wo Moon steckt? Oder was er vorhat? Hat sie eine Idee?«
Leek seufzte. »Nein, nicht direkt. Aber sie glaubt, dass er eine Reise macht.«
Klar, der verschwundene Reisepass, das mitgenommene Banksparbuch mit der Hamburgkohle. Andere gesparte Kohle hatten wir ja nicht. – War das etwa schon alles, was Leek aus Chrippa herausgelockt hatte?
»Eine Reise?«, wiederholte
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