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Wenn du mich brauchst

Wenn du mich brauchst

Titel: Wenn du mich brauchst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jana Frey
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übermorgen.«
    »Nein, du …«, sagte ich erschrocken, aber er ließ mich nicht aussprechen.
    »Kindchen, ich weiß, wovon ich spreche«, unterbrach er mich würdevoll. »Und da ist noch etwas, was ich vorher loswerden muss. Und ich will nicht Nat, diesen Trottel, damit behelligen.«
    Nat war Nathan Lovell, Old Nialls Sohn – Leeks Vater in Berkeley. Old Niall und er hatten kein sehr gutes Verhältnis zueinander. Old Niall nahm es seinem einzigen Sohn immer noch übel, dass er Nordirland vor mehr als vierzig Jahren zugunsten der Vereinigten Staaten den Rücken gekehrt hatte.
    »Also, eigentlich sollte es dein Vater erfahren, aber da er verschollen ist, wie es scheint, musst du dir nun anhören, was ich zu sagen habe.«
    Seine Stimme klang eigenartig. Ich fand kein Wort dafür, aber ich fröstelte mit einem Mal. Gershon fing meinen Blick ein und lächelte mir fragend zu. Und warum auch immer, plötzlich rückte ich näher an ihn heran und ließ ihn mithören, was Old Niall so dringend zu sagen hatte. Nebeneinander lagen wir schließlich auf Gershons erhöhter Matratze und lauschten Old Nialls bedrückter und entrückter Stimme. Noch nie hatte ich ihn in dieser Stimmlage sprechen hören. Normalerweise polterte und schnauzte er herum, heute klang er tieftraurig und merkwürdig beunruhigt.
    »Sky, du musst wissen, wie wütend ich damals war. Mary war gestorben, dein Großvater war noch nicht lange nach Amerika gegangen.« Ich nickte. Meine Urgroßmutter war in den Siebzigerjahren bei den Straßenkämpfen in Belfast ums Leben gekommen. Sie hatte als Journalistin gearbeitet und war in einen Hinterhalt gekommen. »Die verdammten britischen Soldaten! Sie war die Liebe meines Lebens und ohne sie war es nicht mehr das Gleiche. Ich war von Hass nur so zerfressen …«
    »Wer ist das?«, flüsterte Gershon und schob seinen Arm unter meinen Nacken. Seine Wange berührte jetzt meine.
    »Mein Urgroßvater«, flüsterte ich zurück. Für mehr war jetzt keine Zeit.
    »… Sky, hörst du?«, schrie Old Niall, so laut, als müsse er mich von seinem kleinen Haus in Belfast schlicht mit seiner Stimme erreichen und nicht über einen riesigen, gigantischen Telefonsatelliten, der ihm diese Arbeit abnahm.
    »Ja, ich höre dich, Old Niall«, sagte ich und spürte dabei Gershons warmen, beruhigenden Atem neben mir.
    »Ich tat es wegen Mary. Aber ich tat das Falsche. Ich trat der IRA bei. Wir waren nur eine kleine Gruppe und doch bauten wir diese Bombe. Ich fuhr Colm und die anderen. Hier in Belfast gab es damals eine große protestantische Bibliothek. Verstehst du, ich war der Fahrer der Gruppe! Ich hab sie gefahren. Colm deponierte die Bombe in einem Luftschacht hinter ein paar Bücherregalen. Ich hatte den Plan gesehen. Es war kinderleicht. Erschreckend leicht.«
    Plötzlich schwieg Old Niall. Er schwieg so lange, dass ich dachte, die Leitung sei eventuell zusammengebrochen, weil sogar das typische Rauschen in der Leitung aussetzte.
    »Grandpa?«, fragte ich leise.
    »Ja«, antwortete er nach einem langen Seufzer. »Ja, ich bin noch da, mein Skymädchen. Wenn auch nicht mehr lange …«
    »Wie – wie ging es weiter?«, fragte ich unruhig. Diesen Old Niall kannte ich nicht. Er war völlig verändert.
    »Sie ging hoch. Die Bombe. Zerriss alles. Und alle.«
    Jetzt weinte Old Niall. »Sky, es waren Kinder an dem Morgen in der Bibliothek. Eine Schulklasse. Acht, neun Jahre alt. Verstehst du, Sky? Es waren Kinder.«
    »Oh nein …«, flüsterte Gershon.
    »Oh, Grandpa«, sagte ich.
    »Sky, sei so gut und sag Nat und Leek, dass ich sie liebe. Und bitte sie, mir zu verzeihen. – Alle meine verdammten Fehler. Ich habe eine Menge davon«, sagte Old Niall heiser. Mehr sagte er nicht.
    »Du konntest es nicht wissen, Grandpa«, rief ich. »Du konntest es nicht wissen.«
    Stille.
    »Grandpa? – Grandpa? Old Niall?«
    Aber er sagte nichts mehr, obwohl die Leitung, wie es schien, immer noch hielt. Ich hielt die Luft an und dann spürte ich irgendwie, dass er jetzt – in diesem Moment – gestorben war. Zweiundneunzig Jahre alt war er geworden.
    Und da fing ich an zu weinen und Gershon hielt mich im Arm.
    Irgendwann, viel später, erzählte ich ihm dann auch noch die Geschichte meiner Verwechslung.
    »Da siehst du es, Sky«, sagte Gershon hinterher leise.
    »Was meinst du?«, fragte ich.
    »Es gibt große Katastrophen. Und kleine. – Und die Geschichte deines Urgroßvaters ist eine große Katastrophe. Deine Geschichte ist höchstens eine kleine. Wenn

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