Wenn du wiederkommst
an die ich keine gemeinsame Erinnerung habe, sind leer und taub, ich suche sie nicht auf, sie sind nicht schlechter als andere Orte, es ist nur zu spät für sie.
Wie eine Süchtige gehe ich in den nächsten Tagen durch die Stadt, immer auf der Suche nach Jeromes Gegenwart, flüchtig und ungreifbar wie ein längst verschwundener Duft, aber wo sonst soll ich ihn suchen, wenn nicht hier. Beim Old Statehouse beginne ich mit meiner Wanderung, hier stieg er zum letztenmal aus dem Auto, um den kurzen Weg zum Münzengeschäft zu gehen. Von da mache ich den weiten Bogen, den der Krankenwagen gefahren sein muß, von der Tremont Street zur Cambridge Street, zwischen den Wolkenkratzern Downtown hinunter zum Charles River bis vor die Einfahrt des Mass General Hospitals, an der Emergency Entrance steht. Die Stadt zerfällt mir nicht mehr wie früher in Ausschnitte und
Gegenden, sie ist eine einzige Landschaft aus Erinnerungen, und jede Straße, jede Ecke hat ihren eigenen Geruch und ihre eigene Atmosphäre, jede Wahrnehmung hat ihr eigenes Gewicht durch die Erinnerung an Jerome. Ich laufe die Charles Street hinunter zum Boston Common, weg vom Spital, als käme er mir entgegen. Für eine kurze Spanne Zeit bin ich glücklich in diesem unwirklichen Leben wie unter einer Glaskuppel, die man schüttelt und dann ist man von einem Gestöber aus Flitter oder Schnee umwirbelt, während draußen die Sonne scheint. Ich bin allein in Boston unter der Glasglokke meiner Erinnerungen. Das Trauerjahr ist mit dem heutigen Tag zu Ende.
Bist du glücklich, frage ich Ilana nach unserem letzten Besuch an Jeromes Grab. An den Rändern des Friedhofs lagert das rötliche Licht eines zu Ende gehenden Tages. Dieses Mal sind Ilana und ich allein hergekommen.
Sie faßt mich um die Schultern und drückt mich fest an sich. Nächstes Mal, beginnt sie, und ich lege meinen Finger auf ihre Lippen: Nicht, ich bin abergläubisch geworden, sag bitte nichts vom nächsten Mal.
Sie lacht: Dann lasse ich es dich schriftlich wissen.
Und du, fragt sie, hast du eine Antwort bekommen?
Ich kann es dir im Augenblick nur so erklären, sage ich, wie es bei Isaac Babel stehen würde, den dein Vater so sehr mochte: Sie fuhr in seine Stadt, und das Herz war ihr schwer von den Verlusten des vergangenen Jahres. Sie traf sich mit der Tochter, dem Kind ihrer jungen Jahre, und sie fuhren an sein Grab an einem sonnigen Frühlingsnachmittag. Kein Mensch außer ihnen war da. Zunächst standen sie und redeten, später setzten sie sich auf die Grabeinfassung zu seinen Füßen und redeten, bis die Sonne auf sie herabbrannte. Sie sprachen über ihn, die Frau redete von ihrer Liebe, die er zu Lebzeiten nicht begriffen hatte. Sie sprachen auch über ihr jetziges Leben, an dem er keinen Anteil mehr hatte, und manchmal wandten sie sich an die Inschrift mit seinem Namen auf dem schwarzen Marmor, auf dem die Frau nicht vorkam, und fragten, hörst
du uns? Ich liebe dich, sagte seine Frau, ich will, daß du mir endlich eine Antwort gibst, und die Tochter lachte und sagte, das hat er tausendmal beantwortet, aber du bist taub. Nach drei Stunden erhoben sie sich und gingen fort. Es war ihnen vorgekommen, als sei er die ganze Zeit der Dritte in ihrem Gespräch gewesen, als hätten sie sich dort an seinem Grab getroffen und sich mit ihm unterhalten, genauso wie früher am Eßtisch am Schabbat. Und weil es ihnen schien, als hätte er zugehört und alles vernommen und richtig ausgelegt, was sie gesagt und an ihn gewandt gedacht hatten, gingen sie glücklich und getröstet fort. Es schien ihr, als habe er ihr geantwortet und ihr eine Dankbarkeit und Zuversicht mit auf den Weg gegeben, die sie seit vielen Monaten nicht gekannt hatte. Sie fühlte, daß er sie gehört hatte, und sie war gewiß, daß er sie liebte. So ähnlich hätte Isaac Babel es ausgedrückt, sage ich zu Ilana, mir aber fehlen die Worte, ich kann es mir nicht erklären, was heute geschehen ist und warum ich mich so anders und erleichtert fühle. Vielleicht ist es ja auch die Freude über dein Glück, zu sehen, wie du strahlst und wie sich in deinem Leben alles zum Guten gewendet hat. Und doch werde ich das irrwitzige Gefühl nicht los, Jerome hätte mich erhört und das sei ein untrügliches Zeichen seiner Liebe. So hätte es doch sein können, nicht wahr?
GLOSSAR
Bar Mizwah: »Sohn des Gebotes«, Bezeichnung für einen Jungen bei Vollendung des dreizehnten Lebensjahres. Damit ist er volljährig und nimmt aktiv am religiösen
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