Wenn du wiederkommst
dem Gedanken an etwas, das ich weder denken noch fühlen kann. Es gibt keine Botschaften, die zwischen hier und drüben hin- und hergehen, nicht in der sichtbaren Welt, nirgends. Vor dem Tod gibt es keine Gegenwart.
Dann kommen die Tage der endgültigen Abschiede. Ilana und ich gehen am Kai entlang und reden über die ungewisse Zukunft. Das Meer ist jetzt tiefblau und ruhig, weiter draußen kreuzen die weißen Dreiecke der Segelboote, es geht gegen Labor Day, und es sind nicht mehr viele Menschen am Strand. Ilana hat eine Wohnung in Manhattan gefunden, und die Möbel, die sie von zu Hause mitnimmt, die Dinge, die sie behalten und in ihr Leben aufnehmen will, sind dorthin unterwegs. Sie hat auch an der Brown University nicht gekündigt, wie sie es in der ersten Woche nach Jeromes Tod tun wollte, dazu war sie am Ende doch zu klug und zu pragmatisch, sie hat um ein Freisemester angesucht und es bekommen.
Es gibt Augenblicke, sagt sie, wo ich so sicher bin wie nie zuvor, daß mir mein Vorhaben gelingen wird. Als könne mir nichts mehr passieren, jetzt wo Dad auf mich aufpaßt. Kannst du dich erinnern? Das hatte er immer gesagt: Ich muß auf dich aufpassen.
So hatte er Liebe und Verantwortung verbunden. Das Gebot, auf jene, die er liebte, aufzupassen, zunächst und vor allem auf den kleinen, um vier Jahre jüngeren Bruder, muß das eindrücklichste Gebot seiner frühen Kindheit gewesen
sein. Seine Mutter wußte, was passieren konnte, wenn man auf die Schutzlosen, die einem anvertraut sind, nicht aufpaßte. Es stand am Anfang aller Verantwortung und war der Antrieb für alles, was er tat.
Es war ein zärtliches Aufpassen, sage ich, er hatte sehr viel Liebe. Auf dich aufpassen mußt du nun aber selber.
Als ich nach Hause zurückkomme, fallen bereits die ersten gelben Blätter von den Bäumen an der Uferböschung, und unreife Äpfel liegen auf dem Rasen zwischen den Häusern, die meisten Bewohner unserer Vorstadtgegend sind noch in den Ferien, die Straße ist ganze Tage menschenleer, und eine Müdigkeit liegt über der Landschaft, die schon den Herbst ankündigt. Täglich präge ich mir das vertraute Bild des Charles River ein, der alten Kastanie, direkt vor dem Fenster, die über die Veranda ragt und nachts mit hartem Aufschlag stachelige Früchte auf ihren Bretterboden wirft. Die Tage werden kürzer, und die Stunden werden kostbar, denn es ist nicht nur ein Haus, von dem ich mich losreißen muß, ich bin im Begriff, den größten Teil meines bisherigen Lebens zu verlieren. Noch immer erfüllt Jeromes Gegenwart das Haus, er ist der Zwischenraum zwischen den Dingen, die Zeit zwischen den Minuten. Ungezählte Male am Tag wende ich mich an ihn mit einer Frage, einem verschwörerischen Blick, einem Lachen, und in diesem Bruchteil eines Augenblicks ist er anwesend, zwischen den lebhaften Erinnerungen und dem Wissen, daß er nicht mehr da ist. Deshalb erschreckt mich die Vorstellung, er könne mich an einem neuen Ort nicht finden. Noch immer flackert unvermutet die wahnwitzige Hoffnung auf, daß er zurückkommt, wenn ich meine Sehnsucht mit ganzer Kraft darauf konzentriere.
Zum letzten Schabbat Abendessen lade ich noch einmal alle ein, die bis zum Schluß Jeromes Freunde gewesen waren, Leslie, Louise, Peter, Philip und unsere gemeinsame Freundinnen Suzanne und Rachel. Aber Leslie hat bereits ein Date mit seiner Theologiestudentin, Peter wird von Ilana wieder ausgeladen, Philip beantwortet meinen Anruf nicht und das Telefongespräch mit Louise wird zu einer bitteren Abrechnung. Sie fordert die Geschenke zurück, die sie Jerome im Lauf der Jahre gemacht hat.
Ich habe alles weggeworfen, was mit unserem Leben nichts zu tun hatte, sage ich, du kommst zu spät.
Nach so vielen Jahren, in denen wir vorgaben, über den Konventionen zu stehen, sagen wir einander schonungslos, was wir Jerome zuliebe zurückgehalten haben. Auch als wir aus den Sätzen der anderen schließen können, daß er uns gegeneinander ausgespielt und belogen hat, nehmen wir ihn noch vor der anderen in Schutz.
Hat er dir denn erzählt, was ich über dich gesagt habe? fragt sie.
Nie, kein Wort, lüge ich.
Erstaunlich, sagt sie erleichtert.
Wir haben es immer gewußt, daß wir einander haßten, und es war sinnlos vorzugeben, wir seien Freundinnen, überflüssig, uns zu treffen, einander zum Essen einzuladen, Tratsch und Sorgen auszutauschen.
Tröste dich, sage ich, er hat keine von uns beiden gewollt.
So sind wir auch an dem letzten Freitag abend nur
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