Wenn er mich findet, bin ich tot
gegen die Wand. Ich schnappe nach Luft und rieche sauren, stinkenden Alkoholatem. Ein Schatten fällt auf mich, und ich höre Geschrei. Mein Bett wackelt. Ein grölendes Ungeheuer hebt es an. Ich knalle ihm meine Ferse gegen das Kinn. Jemand schreit. Da hab ich mir schon meine Tasche gekrallt und bin aus der Tür. Steine schneiden mir in die Fußsohle. Es wird immer so sein, schießt es mir durch den Sinn. Es wird sich nie ändern. Aber es muss alles anders werden! Ich muss es ändern. Ich hänge am Türgriff zur Kantine. Die Tür geht auf. Gott sei Dank, denke ich und falle auf den Kantinenboden. Mit dem Fuß trete ich die Tür zu und bin schneller wieder auf den Beinen, als ich denken kann. Der Schließbolzen rastet ein und ich atme auf.
Im Dunkeln drücke ich leere Einkaufskartons zusammen und lege sie an die Heizung. In einem Spind finde ich kratzige Rotkreuzdecken. Ich will nachdenken, aber irgendwas blockiert die Funktion dazu. Woher haben die Alkohol? Wer hat besoffen an meinem Bett gerüttelt? War es Ben, Lars oder Cem? Warum? Zweimal klappert es an der Tür, danach wird es draußen still. Ich schlafe ein, unruhig, durcheinander, schrecke auf, kritzle stichwortartig meinen Albtraum ins Panik-am-Polarkreis-Buch. Dämmere mit dem Kopf auf dem aufgeschlagenen Buch wieder weg.
16. 10. 12, Küchencontainer
Werde niedergedrückt, kann mich nicht bewegen.
Kein Licht. Immer weniger Luft zum Atmen und wahnsinnige Schmerzen. Dann Steine, riesige Brocken, vorm Ausgang.
»Tilly! Mach die verdammte Tür auf!« Becks Stimme ist auf Alarm gestellt. Seine Fäuste hämmern gegen die Stahltür.
»Moment«, krächze ich und versuche, mich zu orientieren. Wo sind meine Schuhe? Ich hab keine Schuhe. Dann wird mir klar, wo ich bin. Ich stecke mein Tagebuch in die Tasche und entriegle die Tür.
Hinter Beck grinst Cem, dümmlich und brutal gleichzeitig.
»Was hat der Idiot in deinem Bett verloren?«
Nichts. Hinter Beck tauchen Lars und Nils auf.
»Mann, wir warn besoffen«, lallt Nils.
»Alle?«, brüllt Beck.
Ich nicke. Ist besser so.
Er schubst mich zur Seite und checkt den Lagerraum hinter der Küche. Von dem Alkoholvorrat, den Riski allein angeschleppt hat, kann nicht mehr viel da sein, Becks Wutschnauben nach zu urteilen.
»Das hat Folgen!« Er ist sehr wütend. »Geht mir aus den Augen!«
Ein würdevoller Abgang ist mir barfuß auf dem Schotterboden nicht gegeben. Aber das hindert mich nicht, Cem mit Überzeugungskraft zu stecken: »Komm mir nie wieder zu nahe. Und leg dich nie wieder in mein Bett.«
»Sonst?« Er grinst blöd.
»… bring ich dich um. Im Affekt.« Ich meine es todernst. Weitere Albtraumnächte pack ich nicht mehr.
»Schlotter«, sagt er gutmütig.
Unser Container sieht übel aus. Ich muss über einen umgefallenen Spind von Jana rüberklettern. Auch sonst steht kaum was da, wo’s mal war. Nur Sandras Koje ist unangetastet, wahrscheinlich ist sie bei Kolja. Zum Glück hat niemand gekotzt. Ich zieh mein Bett ab, dreh die Matratze um und schlafe ein.
Am Morgen versuche ich, die Vorteile des gemeinsamen Aufstehens zu finden. Es gibt keine. Nur mit Mühe schaffe ich es, meine Zähne zu putzen. Doch in der Kantine stelle ich fest, dass ich vergleichsweise frisch geduscht wirke. Die Jungs haben samt und sonders einen fiesen Grünstich. Bei Vanessa und Jana geht die Gesichtsfarbe ins Bläuliche über. Sandra ist käsig, grinst mich aber verschwörerisch an. Das ist mir lieber als die Unterstellung, ich würde ihr ihren Kolja ausspannen.
Beck, Tonberg und Riski sind gut durchblutet. Ein Leben jenseits des Polarkreises mit elf Problemfällen ohne Alkoholbestand ist nicht gerade das, was sie heiter stimmt.
»Wer hat die Kantine und die Tür zum Vorratsraum aufgebrochen?«, will Beck wissen.
Ich auch, aber niemand meldet sich, niemand petzt. Sie verdonnern uns allesamt zu Extraschichten.
»Wieso hast du nix gesagt?«, fragt mich Lars beim Kaffeeausschenken.
»Was gesagt?«
»Dass du nicht mitgefeiert hast. Du hättest dir die Extraschicht Schufterei sparen können.«
»Wieso? Ich hab Cem um ein Haar den Kiefer gebrochen. Mehr Party geht nicht.«
»Dann hat ja jeder seinen Spaß gehabt«, mischt sich Paolo in die Unterhaltung. Er sieht mich an. Ich sehe weg.
Einigkeit ist ein zu großes Wort, aber die Stimmung im Haufen war selten so gedämpft und gleichzeitig so gut.
Und Riski steht zu seinem Wort, trotz seiner Verärgerung. Viertel vor elf nickt er mir zu. Ich verzieh mich ohne Kommentar,
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