Wenn er mich findet, bin ich tot
Tinte auf Englisch, quer über einer Doppelseite, und krall mich am Stehpult fest. Ich kenne das Schriftbild! Und das Violett, das kommt mir so unglaublich bekannt vor und trifft mich zugleich absolut unvorbereitet. In meinem Kopf schrillen Alarmglocken. Mein Herz rast. Panik. Ein Flashback. Ich starre auf die Seiten, unfähig zu entziffern, was da steht, obwohl ich es krampfhaft versuche. Ein Erinnerungsfetzen, ein riesiges Gesicht, ein Mund, Zähne. Der Ton in meinem Ohr wird immer schriller und ein irrer Schmerz haut mich total aus den Latschen. Unvermittelt. Schwärze vor den Augen.
Ich bin richtig weggetreten, kriege das Gewusel und die Hektik nur wie durch eine Nebelwand um mich herum mit. Leute zerren an mir, packen mich in Decken. Riski brüllt mich an. Ich hör ihn, will was sagen, aber es geht nicht.
Um ein Haar steckt mich der Notarzt ins Krankenhaus. Und das bringt mich wieder auf meine schwankenden Beine. Nach einigen Debatten darf ich mich in Begleitung von Sandra in den Bus legen.
»Was is ’n los mit dir? Hast du deine Tage?« Sandra.
»Nee, Kreislauf war weg. Schon besser. Gut, dass du da bist.« Ich mein es ernst.
Sandra lächelt.
Für mich ist es das Oberdrama. Ich kriege Panikattacken am laufenden Meter und bin so gestresst, dass ich drei Tage nonstop die Scheißerei habe. Ich magere ab, krieg Ausschläge, Albträume. Verfolgungswahn pur. Vor lauter Panik mach ich die allerschlimmsten Sachen und kann nichts dagegen tun. Ich schreie nachts, wache schweißgebadet auf und kritzle zwanghaft mein Panik-am-Polarkreis-Buch voll. Es liegt jetzt dauernd unterm Kopfkissen. Als die anderen auf der Baustelle sind, hol ich die Panikbücher aus dem Versteck und nummeriere alle wiederkehrenden Albträume durch, nach Häufigkeit und einer Panik-Skala von 1 bis 10. Dauernd denke ich an die violette Tinte und versuche vergeblich zu kapieren, was daran mich so panisch macht.
»Tilly!«
Ein eiskalter Windhauch, die Containertür ist auf. Riski nähert sich polternd meinem Bett. Soll ich mich unter der Bettdecke verstecken? Nein, aber die Bücher!
Ich erstarre.
Er starrt mich an.
»Steh auf. Mach dich fertig. Wir laufen in einer Stunde«, sagt er, dreht sich um und geht.
5
November
Was ist in den vergangenen zwei Wochen passiert?
Zuerst haben wir kollektiv unseren Körperschmuck entfernt, ausgelöst durch Lars, die Glatze. Unter Schmerzensgeheul kam er in den Küchencontainer gestürmt.
»Was hat der denn?« Wir rätseln.
Die Antwort ist simpel. Die Ufer des Paatsjoki frieren zu. Es ist wahnsinnig kalt. Metall leitet Kälte besser als Fettgewebe. Und die Folge davon ist: Piercings drosseln die Blutzirkulation, das Gewebe kühlt ab, und der Schmuck friert auf den unbedeckten Hautstellen fest. Das tut sauweh. Ich entferne blitzartig meine Ohrstecker.
Insgesamt geht in unsrer Gruppe gut ein Kilo Metall ab.
Der Rest war Schufterei, Seifenoper, Tratsch, Zoff und ein weiteres übles Besäufnis, diesmal mit absolut ungeklärter Alkoholbeschaffung.
Zur Schufterei: Nach konstantem Schneefall sehen unsre Container Iglus bereits verblüffend ähnlich. Riski macht unmenschlichen Druck. Wir haben aufgeholt und liegen wieder im Zeitplan. Die Stahlkonstruktionen für die Korridore und Außenwände der Jugendherberge sind fertig. Daneben stehen die Konstruktionen für das separate Diskoiglu. Vor vier Tagen haben wir vom AuroraLinna Icehotel eine Schneekanone geliefert bekommen. Mit Wasser aus dem Fluss, das in Schnee verwandelt wird, werden die Zwischenwände beschossen, bis sie kompakt gefüllt und gefroren sind. Dauert ein paar Tage, dann kommt die Dachverschalung drauf. Wieder Schneekanonenbeschuss, Warten, Stahlkonstruktionen und Verschalungen abbauen und fertig. Fürs Mobiliar bekommen wir Eisblöcke aus dem Kühllager, an denen wir uns künstlerisch austoben sollen. Im Frühjahr schmilzt die ganze Angelegenheit und fließt zurück in den Fluss. So viel zur Vergänglichkeit getaner Arbeit. Sind so kalte Hände, kalte Finger dran, darf man nie drauf schlagen, die zerbrechen dann , hat Tonberg gestern gesungen. Beck hat sich schlapp gelacht. Die Arbeit macht mürbe und albern gleichzeitig. Musikbeschallung aus der Anlage ist bei der Arbeit neuerdings verboten, weil unterschiedliche Musikgeschmäcker zu Schlägereien geführt haben.
Jetzt zur Soap: Vanessa macht weiterhin im Wechsel mit Lars, Cem, Sam, Nils und Ben rum. Das hat Unfrieden im Lager der Einsilbigen zur Folge. Zwei Schlägereien. Dazu gräbt sie
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