Wenn er mich findet, bin ich tot
holen.
»Nehmt die Skier mit rein! Und verrammelt die Tür! Da kommt wer direkt hierher. Ich hol Hilfe!«
»Bist du bescheuert? Komm rein!«, protestiert Paolo.
»Bitte!«, flehe ich. »Wenn er es ist, dann hat er ein Gewehr, und wir haben keine Chance!«
»Mach, was sie sagt«, brüllt Kolja und zerrt die Skier ins Innere.
Rums, die Tür ist zu. Ich kontrolliere mein GPS und lege die Richtung fest. Dann stoße ich mich ab und fahre mit Schuss den Hang hinunter und fliege hinaus auf den Fluss. Solang der Schwung reicht, lass ich mich gleiten. Dann ramme ich die Stöcke mit ganzer Kraft in den verharschten Schnee auf dem Eis und stemme mich vorwärts. Die weite Fläche liegt vor mir. Er muss mich sehen! Und wenn er mich sieht, soll er mir folgen! Ich will, dass er mich verfolgt, und wenn er mich umbringen will, muss er hier rauskommen aufs dünne Eis. Ich fliege und jage zur Mitte des Flusses. Wo bist du, meine Schnee-Eule?Flieg vor mir her! Über die Grenze, durch Karelien über das Weiße Meer bis nach Archangelsk. Die Schneefläche vor mir reflektiert die zitternden Lichter des Schneemobils. Er ist oben an der Hütte angekommen. Von da aus muss er mich sehen! Ich laufe schnell, atme tief und mach mich leicht. Das Schneemobil heult auf, dreht hohl, wahrscheinlich ist es am Hang gestürzt. Also folgt er mir. Ich laufe Richtung Nordosten, so schnell wie nie in meinem Leben zuvor, immer weiter, immer weiter. Das Motorgeheul schwillt auf höchste Touren an, er ist auf dem Fluss. Ich laufe und lausche. Das Geheul wird immer lauter. Wie weit vom Ufer bin ich entfernt? Einen Kilometer oder mehr? Es gibt keine Anhaltspunkte – nur ein Hauch Grün, Grau, einen Schimmer Rot und unendliches Blau. Die Farben des Todes. Ich schreie und zerreiße den Polarkreis und die Eisdecke mit meinem hohen Schrei. Er soll wissen, dass ich es bin! Tilly. Dann spitze ich die Ohren. Das Motorengeheul hat den Klang verändert. Er fährt jetzt im Leerlauf. Ich beuge mich weit nach vorn und ramme die Stöcke ins Eis. Ein Schuss rollt über mich weg und noch einer. Er will die Hände frei haben und versucht, mich abzuknallen wie ein Tier! Da ist er nicht der Erste. Mich zu töten, das haben andere schon mit Prügel probiert und haben versagt. Ich fliege weiter und das Schneemobil heult auf, aggressiv und laut. Atmen und laufen, meine Arme schwingen weit nach oben aus. Ich ziehe nach links, Richtung westliches Ufer. Wie kann es sein, dass ich unter mir das Zittern spüre und immer noch Bodenkontakt habe? Ich bin so schnell, so leicht, mitten im Nichts. Das Knacken und Krachen wird lauter. Er kommt näher und macht einen ohrenbetäubenden Lärm. MeineSinne sind auf die schneeverharschten Zeichnungen im brüchigen Eis vor mir gerichtet, bis das Scheinwerferlicht des Schneemobils nach rechts rübergleitet und ich nichts mehr sehe. Er will überholen! Ich ziehe noch weiter nach links. Und auf einmal wird alles blutrot. Blutrot zieht sich mein Schatten vor mir in die Länge und verblasst. Eine Leuchtkugel? Hat Riski den Lärm gehört und kommt endlich zu Hilfe? Das rötliche Zackenmuster in der Ferne müssen die Krüppelfichten auf dem Hügel sein. Da muss ich hin! Ich werfe mein Gewicht nach vorne. Als ich mich hochstemme, sehe ich rechts von mir ein grelles Geistern von Licht. Es kracht entsetzlich. Der Motor heult auf, verstummt und alles versinkt in Dunkelheit.
Unter mir gerät das Eis in Wallung und bäumt sich auf. Ich will mich am Himmel festhalten. Weiter-weiter-weiter! Riskis Stimme dröhnt in meinem Kopf. Ich wechsle in den Grätschschritt und laufe um mein Leben. Atme und laufe um mein Leben in die Dunkelheit hinein. Laufe und lasse das Wasserglucksen, Krachen und die hellen Töne von zerreißendem Eis hinter mir, laufe und spüre Festigkeit unter mir und laufe einfach weiter. Ein helles Licht steigt auf, hinter mir, im Osten, auf der russischen Seite. Deutlich sehe ich das westliche Ufer vor mir. Sehr viel weiter links kann ich sogar das Camp erkennen und ich drehe mich um. Die verschneite Eisdecke des Flusses schimmert im weißen Licht der Leuchtkugel. Fast unberührt, bis auf das bedrohliche, schwarze Loch fünfzig Meter hinter mir. Eine zischende, gurgelnde, aufgerissene Wunde im Eis. Niemand folgt mir mehr, nur das Licht der zweiten Leuchtkugel, die jenseits der Grenze abgeschossen worden ist.
Ich schieb die GPS-Uhr unter meinem Pullover bis zumEllenbogen hoch und laufe den Lichtern entgegen. Zwei Schneemobile nähern sich vom
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