Auf in den Urwald (German Edition)
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W ilfried war gerade dabei, sich den Schlafanzug anzuziehen, als seine Stirn plötzlich nachdenkliche Falten bekam. Er erhob sich von seinem Bett und öffnete den Schrank. Im obersten Fach lagen nebeneinander geordnet die Zahnbürste in einem durchsichtigen Behälter, die Zahnpastatube mit dem aufgerollten Ende, der elektrische Rasierapparat, die Dose Niveacreme und die grüne Flasche mit dem Shampoo. Der gelbe Plastikbehälter mit der Seife fehlte. Er hatte ihn unten, im Keller, in der Dusche vergessen, nur weil jemand die ganze Zeit wie eine Katze miaut hatte. Wenn jemand Geräusche nachmachte, musste Wilfried immer lachen und vergaß alles um sich.
Ohne den Seifenbehälter im Schrank konnte Wilfried nicht einschlafen. Der Gedanke, der Seifenbehälter liege tief im Keller und er, Wilfried, hoch oben in der zweiten Etage, machte ihn ganz unruhig.
»Ich gehe jetzt in den Keller und hole den Seifenbehälter«, sagte Wilfried zu seinem Zimmernachbarn, der in dem anderen Bett lag. »Wenn er wieder neben dem Shampoo liegt, ist alles in Ordnung und ich kann ruhig einschlafen!«
Der andere sagte nichts. Er starrte die Decke an und bewegte den Kopf langsam hin und her. Wilfrieds Seifenbehälter war ihm anscheinend völlig egal.
Wilfried schloss den Schrank wieder zu und verließ das Zimmer. Jetzt, da überall Nachtruhe herrschte, war es im Haus ziemlich still. Nur manchmal hörte man von einem der Zimmer ein Stöhnen oder einen lang gezogenen Wehlaut. Als Wilfried den Korridor entlangging, sah er, dass das Zimmer von Herrn Polzig leer war. Auf dem Tisch stand benutztes Geschirr und in der Ecke lief der Fernsehapparat. Das war gut so, denn Herr Polzig wäre bestimmt darüber verärgert gewesen, dass Wilfried die Dose vergessen hatte.
Wilfried stieg die Treppe hinunter und war bald im Keller. Hier musste er sich erst einmal gewaltig ducken, denn mit seinen 2,10 Metern passte er aufrecht nicht unter die Kellerdecke. Am Anfang hatte er sich auf dem Gang zur Dusche immer wieder schmerzhaft den Kopf gestoßen und einmal sogar die Kopfhaut an einem Heizungsrohr aufgerissen. Die musste dann im Krankenhaus geklebt werden.
Gleich um die Ecke waren die Duschen. Wilfried bog zielstrebig links herum, als ihn plötzlich ein seltsames Gefühl überkam. Er drehte sich um. Die schwere, mit eisernen Beschlägen gesicherte Kellertür stand weit offen und er konnte die vier Stufen der Außentreppe und den grünen Rasen des Gartens sehen. Eine Zeit lang starrte Wilfried die Tür erstaunt an, dann erstrahlte sein Gesicht. Bevor er die Seifendose holte, wollte er erst noch einmal den Garten besuchen. Dass irgendjemand in diesem Haus eine Tür offen gelassen hatte, grenzte an ein wahres Wunder. Wilfried hatte es jedenfalls noch nie erlebt und er wohnte hier schon ziemlich lange.
Als Wilfried den Garten betrat, schlug sein Herz vor Freude heftig auf und er musste erst einmal tief durchatmen. In diesem Teil des Gartens war er noch nie gewesen. Der Rasen war nicht zertreten wie auf der anderen Seite des Hauses und hinten an der Mauer blühten Stauden über Stauden. Wilfried hatte eine solche Blütenpracht schon lange nicht mehr gesehen. Er ging auf die Knie und betrachtete die Grashalme aufmerksam aus der Nähe.
» Festuca rubra «, sagte er und strich mit seinen großen, wulstigen Fingern zärtlich über einen der Grashalme. »Und hier agrostis canina montana «, wandte er sich einem anderen Grashalm zu und lächelte zufrieden, dass ihm der Name sofort eingefallen war. Dann kroch er auf allen vieren zu den Stauden an der Mauer und roch an den Blüten. Die weiß blühende anemone japanica duftete besonders stark, dagegen ließ hier die blau blühende liriope graminifolia ihre Knospen noch geschlossen. Wilfried steckte den Kopf zwischen die Stauden und schaute sich um. Es war wie in einem kleinen Urwald. Unten, auf dem Boden, wanderten fleißig die Ameisen und auf den Stängeln liefen Schildläuse und Blindwanzen herum.
Wilfried stutzte. Der Urwald! Er hatte ihn vollkommen vergessen. Und Onkel Ludwig, der war ihm auch ganz aus dem Sinn geraten! Am Anfang hatte Wilfried jeden Tag Herrn Polzig vom Urwald und von Onkel Ludwig erzählt, der auf ihn wartete. Aber dann war Herr Polzig eines Morgens mit ein paar Tabletten gekommen und Wilfried hatte sie einnehmen müssen, damit es ihm wieder besser gehe, wie Herr Polzig meinte. Jeden Morgen gab Herr Polzig Wilfried nun die Tabletten und irgendwann hatte er aufgehört, sich zu
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