Wenn es daemmert
auf ihre Art doch attraktive Frau, nicht viel älter als Mina selbst. Sie hatte ein kleines Mädchen an der Hand, und irgendwo im Haus hörte sie die Stimme eines anderen kleinen Mädchens. Die Frau starrte Mina mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen an. Sie fragte sich sicher, was es zu bedeuten hatte, dass eine fremde junge Frau vor der Tür stand und ihr Ehemann keinerlei Anstalten machte, die beiden einander vorzustellen, stattdessen aber nervös eine DVD in den Händen drehte.
Mina war ohne ein weiteres Wort gegangen, sie hatte es nicht fertig gebracht, James Cunningham in Gegenwart seiner Frau, im Beisein ihrer Schwestern, die sie nun nicht mehr Schwestern nannte, herauszufordern. Sein Gewissen würde ihm Strafe genug sein, hatte sie sich gedacht, doch jetzt, heute, war sie sich nicht mehr sicher, ob es die richtige Entscheidung gewesen war.
»Ich dachte, er zeigt sich selbst an«, sagte sie zu Cedric.
»Er wird keine Chance mehr haben, wenn Brady aus dem Koma aufwacht.«
Sie sah Cedric überrascht an, und Cedric erzählte ihr, was er von Isobel Hepburn erfahren hatte: Brady war in Dundee von einem Auto angefahren und schwer verletzt worden. Er war – laut eines Zeugen – volltrunken auf eine viel befahrene Straße gestolpert, direkt vor ein Auto, doch der Fahrer hatte Fahrerflucht begangen. Kurz vor seinem Unfall hätte Brady Cunninghams Namen gerufen.
Mina war ehrlich erschüttert. »James hat ihn überfahren?«
Cedric zuckte die Schultern. »Es sieht nicht wirklich danach aus, sagt Isobel. An Cunninghams Wagen gibt es keine Unfallspuren. Aber Brady hat sicher mit ihm eine Rechnung offen. Dass Brady auf Art Fishers Gehaltsliste stand, ist mittlerweile bekannt, und er wird sicherlich so viele Leute wie möglich mit sich in den Abgrund ziehen.«
Mina schwieg einen Moment, dann fragte sie: »Was ist mit Pepa?«
»Ich habe mit Isobels Hilfe versucht, sie zu finden. Nichts.«
»Aber Anna …«, begann Mina.
»Anna war auf alles vorbereitet. Steuerprüfung, Polizei, niemand wird etwas bei ihr finden.«
Mina nickte langsam. »Isobel wird weiter nach Pepa suchen, nicht wahr?«
Cedric sah sie an. »Natürlich«, log er und wusste im selben Moment, dass auch Mina es wusste: Die Kapazitäten reichten nicht aus, um noch länger nach einem illegal eingereisten Mädchen zu suchen.
Sie standen beide auf der Promenade von Kirkcaldy, hinter sich die Scherbenhaufen ihrer Vergangenheit. Cedric fühlte sich zu jung, um schon so viel Vergangenheit zu haben. Er versuchte, sich klarzumachen, dass es nicht die eigene gelebte Vergangenheit war, die sich auftürmte und in der Abendsonne trügerisch glitzerte, wie es gebrochenes Glas nun einmal tat. Es fiel ihm schwer, aber er versuchte es.
»Ist das die Stelle?«, fragte Mina und sah auf das Wasser. Am Horizont die Nordsee, zur Rechten Edinburgh auf der anderen Seite des Firth of Forth.
»Das ist die Stelle, heißt es.« Cedric folgte ihrem Blick und spürte die Magie des weiten Meeres, spürte sie so unmittelbar, dass er glaubte, sich festhalten zu müssen, und als hätte sie seine Gedanken erraten, legte Mina den Arm um ihn. Er ließ die Nähe zu und dachte, wie er es seit einigen Wochen mühsam lernte, nicht mehr an seine Internatszeit zu denken und an früher und daran, was ihm so viele Jahre Angst gemacht hatte.
»Das ist die Stelle«, wiederholte er, während die Sonne hinter Kirkcaldy verschwand und er ihre beiden langen Schatten vor sich sehen konnte, so lang, dass sie fast die Wellen berührten.
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