Wenn es daemmert
wurde ihr unglaublich heiß, obwohl ihre Hände ganz kalt waren. Sie hatte versucht, zu der großen Glastür zu gelangen, die in den Garten führte, um frische Luft zu atmen. Als sie die Tür endlich geöffnet hatte, flog eine aufgescheuchte Krähe, riesig und tiefschwarz wie ein Rabe, so nah an ihr vorbei, dass ihre Flügel sie streiften. Sie war in das Gras gestürzt, und Matt hatte sie wieder hineingetragen, weil sie sich nicht mehr bewegen konnte und ihr Gehirn bereits am Rande der Bewusstlosigkeit balancierte.
Dann hatte er sie vergewaltigt.
Die Schritte ihrer Mutter im oberen Stock ließen sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Mina stand von den Stufen auf, stellte das braune Fläschchen in den Küchenschrank und ging zurück an ihren Laptop.
Ihre Mutter kam nach einer halben Stunde zu ihr und machte den Vorschlag, ein paar Sachen fürs Frühstück zu besorgen. Durch das Fenster sah Mina, wie sie wegfuhr. Auch sie verschwand in dem dichten Nebel, wie vor ihr McCallum.
Dann konzentrierte sich Mina wieder auf ihre Fotos und ihr elektronisches Tagebuch, verlor sich in der Vergangenheit der letzten Wochen und Monate und war in einer völlig anderen Welt, als es an der Tür klingelte. Sie erwartete ihre Mutter und rief: »Es ist offen.« Sekunden später räusperte sich Sergeant Hepburn in ihrem Wohnzimmer und wurde sogleich von Chief Inspector Brady zur Seite geschoben, der ihr erklärte, die Situation habe sich leider zu Minas Ungunsten geändert und man wisse nun auch von ihrer Vorgeschichte. Das »leider« klang alles andere als bedauernd.
Mina starrte die beiden an, und sie wirkten auf sie so absurd wie zwei Giraffen, die auf einer Eisscholle vorbeitrieben. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte, aber ihr Gehirn war noch nicht wieder in dieser Realität angekommen, ihre Gedanken waren noch weit entfernt in einer anderen Zeit. Ohne auf ihre Aufforderung zu warten, setzten sich die beiden Polizisten auf das Sofa. Hepburn hatte immerhin genug Anstand, so zu wirken, als sei ihr das Ganze unangenehm.
Brady lehnte sich wohlig in dem Sofa zurück. »Der Mann, der in der Mordnacht einen Schuss gehört und uns verständigt hat, hat uns von einer Gestalt erzählt, die er wegrennen sah, die er aber leider nicht näher beschreiben kann. Nun hat sich aber ein anderer Nachbar von Mr Barnes gemeldet. Er erinnert sich daran, dass er eine Frau gesehen hat, die zur Tatzeit erst in Barnes’ Garten und dann um die Kirche herumgelaufen ist, bevor sie schließlich verschwand.«
»Ach? Dann suchen Sie diese Frau, und lassen Sie mich in Ruhe.«
Brady lächelte zufrieden. »Ich denke, wir haben diese Frau schon gefunden.«
»Ich lag zu der Zeit k.o. im Badezimmer, falls Sie das vergessen haben.«
»Ja, das sagen Sie. Aber wer weiß, ob das stimmt. Sie sind aus dem Haus gegangen, haben die Waffe weggeworfen, sind zurück, haben geduscht, Sie trugen keine Kleidung … Sehr clever. Erst ausziehen, um keine Schmauchspuren auf die Kleidung zu bekommen.«
»Und die Waffe? Haben Sie sie denn gefunden?«
»Die finden wir noch.«
»Sie haben nicht mal …?«
»Es ist nur eine Frage der Zeit.«
Mina schüttelte fassungslos den Kopf. »Und was ist mit Schmauchspuren an meinen Händen? Sie haben doch so einen Test gemacht?«
»Handschuhe.«
»Ich war nackt bis auf Handschuhe und eine Pistole?«
»Sag ich doch. Sehr clever.«
Mina versuchte, Isobel Hepburns Blick einzufangen. Doch diese blätterte nur angestrengt in ihrem Notizbuch herum.
»Brady, Sie schauen zu viele schlechte Filme. Kann das sein?«
»Geben Sie sich keine Mühe. Sie sind im Garten gesehen worden.«
»Wann soll das gewesen sein? Um welche Uhrzeit ist der Mord überhaupt passiert?«
»Zwischen eins und halb zwei.«
»Da ist es dunkel, sogar an Mittsommer!«
»Aber nie stockdunkel, und eine Straßenbeleuchtung haben heute selbst wir hier auf dem einsamen Land«, sagte Brady, und er klang nicht einmal giftig. Er war viel zu glücklich darüber, Matts Mörderin gefunden zu haben.
»Miss Williams, wir wissen von Ihrer Vergangenheit.« Er sagte es, als sei Mina eine ehemalige Sexualstraftäterin, die nun versuchte, inkognito ein normales Leben zu führen.
»Ab einem gewissen Bekanntheitsgrad bleibt es nicht aus, dass viele Leute glauben, etwas über einen zu wissen«, antwortete sie.
»Oh nein, das glaube ich nicht nur. Unsere Hepburn hier ist nämlich ein fleißiges Mädchen. Sie liest für ihr Leben gerne Bücher und ist, wie ich seit kurzem weiß, ein
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