Wenn es Nacht wird in Manhattan
hatte Tippy Moore einen neunjährigen Bruder namens Rory, der Cash vergötterte. Es war schon lange her, dass jemand zu ihm aufgeschaut hatte. Cash war an Neugier gewöhnt, Respekt, sogar Angst. Vor allem Angst. Im Leben dieses Jungen gab es keine männlichen Vorbilder – abgesehen von den Freunden in der Kadettenschule. Es könnte nichts schaden, ein paar Tage mit ihm zu verbringen. Es war ja nicht nötig, dass er den beiden dabei gleich seine gesamte Lebensgeschichte auftischte. Er schauderte, als er an das einzige Mal dachte, da er über seine Vergangenheit gesprochen hatte.
Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und zog ein kleines Adressbuch aus seiner Tasche, in das er die New Yorker Telefonnummer notiert hatte. Dann nahm er sein Handy und wählte.
Es läutete zweimal. Dreimal. Viermal. Er war zutiefst enttäuscht. Gerade als er die Verbindung unterbrechen wollte, klang eine verführerische, sanfte Stimme an sein Ohr. “Hier ist der Anschluss von Moore”, schnurrte sie. “Leider bin ich im Moment nicht zu Hause. Bitte hinterlassen Sie Ihre Nachricht und Telefonnummer. Ich melde mich bei Ihnen.”
Ein Piepen ertönte.
“Hier ist Cash Grier”, sagte er.
Kaum hatte er begonnen, seine Nummer zu nennen, meldete sich eine atemlose Stimme. “Cash!”
Er lachte leise. Das bedeutete, dass sie zum Telefon geeilt war, ehe er auflegen konnte. Er fühlte sich geschmeichelt.
“Ja, ich bin’s. Hallo Tippy.”
“Wie geht’s dir denn?”, fragte sie. “Bist du noch immer in Jacobsville?”
“Immer noch. Allerdings bin ich jetzt Polizeichef. Judd hat bei den Texas Rangers gekündigt und ist mein Stellvertreter”, setzte er zögernd hinzu. Tippy war ganz hingerissen von Judd gewesen – genau wie er einmal von Judds Frau Christabel begeistert gewesen war.
“Nichts bleibt, wie es war.” Sie seufzte wehmutsvoll. “Wie geht’s Christabel?”
“Bestens”, erwiderte er. “Sie und Judd haben vor Kurzem Zwillinge bekommen.”
“Ja, ich habe an Thanksgiving von ihnen gehört”, erzählte sie ihm. “Ein Pärchen, nicht wahr?”
“Jared und Jessamina”, sagte er mit einem Lächeln. Die Zwillinge hatten das Herz ihres Paten in dem Augenblick gewonnen, als er sie zum ersten Mal im Krankenhaus gesehen hatte. Sein Liebling war natürlich Jessamina, und er machte keinen Hehl daraus. “Jessamina ist ein ganz süßer Fratz. Pechschwarze Haare und dunkelblaue Augen. Aber das wird sich bestimmt noch ändern.”
“Und was ist mit Jared?”, fragte sie belustigt, weil er von dem kleinen Mädchen so fasziniert war.
“Sieht ganz aus wie sein Vater”, erwiderte er. “Jared gehört ihnen, aber Jessamina gehört mir. Das sage ich ihnen immer wieder.” Er seufzte. “Es nützt natürlich nichts. Sie werden sie mir nicht geben.”
Ihr Lachen klang wie Glockengeläut an einem lauen Sommerabend. Sie hatte eine unwahrscheinlich attraktive Stimme.
“Und wie geht’s dir so?”
“Ich mache gerade einen neuen Film”, erzählte sie ihm. “Die Dreharbeiten sind allerdings wegen Weihnachten unterbrochen worden, damit wir während der Feiertage zu Hause sein können. Darüber bin ich wirklich sehr froh. Ich muss viel körperlichen Einsatz bringen, und ich bin überhaupt nicht gut in Form. Wenn ich so einen sportlichen Part übernehme, müsste ich eigentlich viel mehr trainieren.”
“Welche Art von Sport denn?”, wollte er wissen.
“Beintraining, Rolle vor- und rückwärts, Sprünge vom Trampolin, Stürze aus großer Höhe, asiatische Kampfsportarten – all so was”, erklärte sie. Plötzlich klang sie erschöpft. “Ich habe überall Schrammen und blaue Flecken. Rory wird in Ohnmacht fallen, wenn er mich so sieht. Er meint, in meinem Alter sollte ich besser die Finger von derlei sportlichen Aktivitäten lassen.”
“In deinem Alter?” Er wusste geanu, dass sie erst sechsundzwanzig war.
“Ich bin alt”, bekräftigte sie. “Hast du das nicht gewusst? Aus seiner Sicht müsste ich schon längst am Stock gehen.”
“Was soll ich dann erst mal sagen?”, antwortete er amüsiert. Schließlich war er zwölf Jahre älter als sie. “Kommt er über die Weihnachtsferien nach Hause?”
“Klar. Er kommt in jeden Ferien nach Hause. Ich habe eine hübsche kleine Wohnung im Lower East Village in der Nähe der Fifth Avenue. Für eine Großstadt ist es wirklich sehr angenehm.”
“Ich hab’s gern ein bisschen großzügiger.”
“Das glaube ich.” Sie zögerte. “Hast du Probleme oder so
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